Genug ist nicht genug // Nicht genug ist genug
Genug. Ein Wort. Ein zweischneidiges Schwert.
Wir alle hatten schon einmal genug. Genug zu essen, genug PS unter der Motorhaube um sich sehen lassen zu können und mehr als genug Aufgaben auf der To-do-Liste.
Wir alle hatten schon einmal nicht genug. Nicht genug Geld, nicht genug Selbstbewusstsein um die Straße entlang, vorbei an diesem Unbekannten zu gehen und noch lange nicht genug vom Leben.
Wie kommt es, dass ein so einfaches Wort so unterschiedlich gebraucht werden kann? Wie kann es sein, dass genug manchmal nicht genug ist? Wie kann es sein, dass nicht genug manchmal genug sein muss?
Die unumstößliche Tatsache, dass wir zusammen mit 7 Milliarden anderen Menschen auf einer Welt, aber noch lange nicht alle in derselben leben, scheint mir die Antwort auf diese Frage zu sein. Schließlich trennen die schillernde Metropole New York City und den regendurchnässten Dschungel Brasiliens nur etwa 5200 Kilometer voneinander, würde man hingegen eine Brücke zwischen den Gedanken und Wertvorstellungen der Bewohner jener Gebiete schlagen wollen, wäre diese bei weitem länger als die chinesische Mauer.
Ist im Amazonas ein langsam über den Fluss tuckerndes Motorboot genug, um gut zu leben, so reicht in New York City das 380 PS starke Auto vom Vorjahr nicht aus, da muss schon ein Ferrari her, um nicht von den Freunden abgeschrieben zu werden. Ist in Brasilien eine Frau fürs ganze Leben einem Mann genug, so kriegen die Bürohengste der Upper East Side nicht genug vom schönen Geschlecht.
Tolle Probleme sind das. Finden Sie nicht auch? Ist es nicht einfacher sich zwischen einem Burger und einem Stück Pizza entscheiden zu müssen, als zwischen einem Laib Brot und einem Kilo Kartoffeln, womit man die restliche Woche auskommen muss? Ist es nicht schöner am Freitagabend zwischen der Stadtwohnung und dem Häuschen am Land als Wochenenddomizil zu entscheiden, als zwischen der von den Bomben beinahe gänzlich zerstörten Wohnung und dem tristen Luftschutzkeller?
Ja, das ist schöner. Aber leichter ist es nicht, nein. Sagen zu können, wann man genug hat, wann es einem reicht, wann man nicht genug hat, wann man gerne mehr hätte, ist sicherlich kein problemloses Unterfangen. Der falsche Gebrauch dieses kleinen, jedoch nicht zu vernachlässigenden Wortes kann Schlimmes heraufbeschwören. Wie ein Schwert, so hat auch dieses Wort einerseits eine nutz- und andererseits eine unheilbringende Seite: Man kann es als Verteidigungsinstrument gegen Feinde, seien diese nun real oder bloß Hirngespinste, anwenden. Indessen kann man die tödliche Klinge gegen sich und seine Mitmenschen erheben, wenn keine Kenntnis über das Führen einer solchen vorhanden ist.
Genau wie der Umgang mit dem Schwert, so ist auch die gewissenhafte Verwendung des Wortes „genug“ das Ergebnis eines langandauernden, gleichermaßen herrlichen und komplizierten Lernprozesses. Doch von eben solchen kann und sollte man nie genug bekommen.
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