Geschmack des Wassersvon Tamara Janošević
Eine Familie. Ein Elternpaar und zwei Kinder. Sie werden von Sorgen gequält, Sorgen, die nur von wenigen nachempfunden werden können. „Was werden wir morgen essen?“ Für uns ist das eine Frage, die mit hundert, nein, hunderten von Möglichkeiten beantwortet werden kann. Aber diese Familie kann sich diese Frage nicht stellen. Ihre Frage lautet – „Werden wir morgen etwas essen?“
Ihr Vieh haben sie letzten Monat verkauft, um ihre Rechnungen bezahlen zu können. Ihr kleines Stück Land schon letztes Jahr. Ihr letztes Schaf haben sie vor einigen Wochen geschlachtet, um etwas zu essen zu haben. Nur noch ihre Hühner sind ihnen geblieben und diese legen immer weniger Eier.
Weshalb sie nicht arbeiten?
Beide der Erwachsenen haben keinen Schulabschluss, die Kinder sind noch minderjährig, die Mutter krank. Sie leben im Dorf, in einem Land, in dem es kaum stabile Unternehmen oder Fabriken gibt. Die einzig nahe, in der der Vater gearbeitet hat, musste schließen und die nächsten Arbeitsplätze sind mehrere Kilometer entfernt. Ihr Auto haben sie schon längst verkaufen müssen und somit haben sie keine Möglichkeit sehr weit zu kommen.
Ihre einzige Einnahmequelle ist das Mithelfen in der Nachbarschaft. Doch die Hilfe wird jetzt im Winter nur sehr selten gebraucht.
Auch wenn es der Familie nicht gerade gut geht, weiß sie, dass sie es auch hätte schlimmer treffen können. Sie haben wenigstens genug Kraft, um den Tag mit Holz hacken zu verbringen, damit sie es in der Nacht warm haben. Der alte Nachbar von nebenan kann von diesem Glück nicht reden…
„Genug“, sagt das Kind zu seiner Mutter, als sie ihm das Omelett in den Teller schüttet. „Die Ivana soll auch noch satt werden.“
…
…Genug…
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Auch wenn die Familie so wenig hatte, hatte das Kind genug, um zu teilen.
Auch wenn die Familie so wenig hatte, hatte das Kind genug, um an andere zu denken.
Auch wenn, oder gerade weil die Familie so wenig hatte, hatte das Kind genug, um Mensch zu sein.
…
Die Familie wird von Sorgen gequält, Sorgen, die nur von wenigen nachempfunden werden können. Das Dorf, in dem sie leben, ähnelt einer Geisterstadt. Im ganzen Dorf gibt es vielleicht 7 Häuser, in denen regelmäßig das Licht brennt. Riesige Häuser, nein, Villen – sie stehen leer. Diese Bauten gehören ebenfalls Einwohnern dieses Dorfes, jedoch haben diese das Land vor langer Zeit verlassen. Aus Verzweiflung und aus Angst so zu enden wie die sorgengeplagte Familie. Sie flohen in der Hoffnung auf ein besseres Leben und fanden dieses auch, zerstreut auf der ganzen Welt.
Nun waren sie nicht mehr die Leute vom Land – sondern der Verkäufer aus der Schweiz, die Ingenieurin aus Österreich oder der Selbständige aus Frankreich. Einige von ihnen gingen und kamen nie wieder. Sie verschwiegen ihre Heimat – aus Angst vor Zurückweisung, aus Scham wegen der ärmlichen Kindheit, wer weiß…? Traurig eigentlich, dass ihre Kinder nie das Land zu Gesicht bekommen werden, welches ihre Eltern und somit auch irgendwie sie selbst geprägt hat.
Andere kommen immer wieder, verbringen ihre Ferien und Urlaube in dem Dorf. Jeden Sommer lebt das kleine Örtchen wieder auf. Spielende Kinder. Fahrräder auf allen Seiten. Jugendtreffen. Man spürt das Glück förmlich. Und dann, wenn der Sommer endet… dann ist es so, als wären sie nie da gewesen.
Sie kehren zurück zu ihren gut bezahlten Jobs. Zu ihren vollen Kleiderschränken und vor allem vollen Kühlschränken. In ihr Stadtleben, wo durch U-Bahnen, regelmäßig und im Minutentakt kommenden Bussen und Straßenbahnen alles ganz einfach zu erreichen ist, alles nur 10 Minuten entfernt ist.
„Genug Urlaub für dieses Jahr“ – mit diesen Worten verabschieden sie sich. Ironie.
Seltsamerweise hört man dieses Wort nur selten von den Menschen, die wirklich genug haben…
…
…Genug…
…
Auch wenn diese Familie so viel hatte, hatte sie nicht genug Geld, um es zu teilen.
Auch wenn diese Familie so viel hatte, hatte sie nie genug Zeit, um diese sinnvoll zu nutzen.
Auch wenn diese Familie so viel hatte, hatte sie nie genug.
…
Ist es nicht seltsam? Je mehr ein Mensch hat, desto mehr will er und desto mehr denkt er, dass er mehr braucht, um glücklich zu sein. Diese Rechnung macht überhaupt keinen Sinn. Und doch leben wir in solch einer Gesellschaft…
Der Winter brach ein und die arme Familie musste sehen, wie sie über die Runden kommen würde. Das Holz würde für die nächsten Wochen reichen… aber wer weiß, wie lange der Winter noch andauern wird. Die Familie trägt dicke Mäntel, die sie von im Ausland lebenden Verwandten bekommen hatte. Ivana trägt die alte Jacke ihres Bruders, die vom ganzen Kalk im Wasser ausgebleicht war. Das Wasser, welches aus dem Wasserhahn kommt, ist nicht durchsichtig, sondern weiß. Wenn man es in ein Glas füllt, schwimmen zuerst die Kalkstückchen wild verteilt im ganzen Wasser. Dann, wenn es sich beruhigt hat, schwimmen die Teilchen nach oben und bilden eine Kalkschicht an der Oberfläche – das Wasser unten wird langsam durchsichtiger. Das ist nicht nur nicht schön anzusehen, denn das Trinken dieses Wassers ist gesundheitsschädigend, vor allem für die Kinder, deren Immunsystem sowieso schon sehr schwach ist.
Viele meinen, Wasser hätte keinen Geschmack. Und doch gibt es in ihrem Land ein dutzend Unternehmen, die Wasser in Flaschen abfüllen lassen und jedes davon hat einen einzigartigen Nachgeschmack. Eines ist säuerlich. Das andere leicht bitter. Ein drittes ist so einzigartig, dass man den Geschmack nicht genau in eine Geschmacksgruppe einordnen kann. Der Inhalt jeder Wasserflasche ist von den anderen zu unterscheiden. Wenn auch nur minimal, es gibt einen Unterschied. Wasser kann so viele Geschmäcker annehmen und wird zu so verschiedenen Preisen angeboten, das ist nicht vielen klar…
Die Kluft zwischen arm und reich ist in dem Land, in dem die vierköpfige Familie lebt, sehr groß.
Während die, die in den Städten leben, mehrmals jährlich in den Urlaub fliegen, Anzüge und Krawatten tragen, Autos mit verdunkelten Scheiben fahren… hat diese Familie noch nie ein Flugzeug, oder gar ein Meer gesehen. Treibstoff ist zu teuer, Versicherungen sowieso. Fünf Euro in der Hosentasche, mit denen man nichts anzufangen weiß, weil man es für so vieles braucht und doch nur diesen einen Schein hat. Die letzten fünf Euro – bis morgen? Bis nächsten Monat? Bis jemand aus der Nachbarschaft Hilfe benötigt und dafür Geld bietet.
Für die Mehrheit von uns ist es schwer, sich nur vorzustellen, wie es ist, so ein Leben zu führen. Das Leben wird immer moderner, immer stressiger und zieht immer schneller an uns vorbei. Wir haben immer weniger Zeit, doch im Endeffekt haben wir genug, wir verschwenden diese aber nur…
…
…Genug…
…
Wir haben genug eigene Sorgen.
Genug andere Dinge, mit denen wir uns tagtäglich ablenken können.
Genug Ausreden und genug Rechtfertigungen, die wir uns selbst einreden, die das tatenlose Zusehen in unseren Köpfen etwas weniger schlimm erscheinen lässt.
…
Hunger – und gemeint ist der echte Hunger, kein Ich-habe-seit-drei-Stunden-nichts-gegessen-Hunger – kennen nicht viele Menschen. Auch nicht, sich bei Kälte nicht etwas Dickeres anziehen zu können, um sich aufzuwärmen. Oder arbeiten gehen zu wollen, es aber wegen Geldmangels nicht zu können, da es keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt und ein eigenes zu teuer wäre.
Es fällt uns nicht schwer, das Wissen über dieses Leid, diese Sorgen und diese Armut zu verdrängen, weil es weit weg von uns passiert. Weil davon nicht viel berichtet wird. Weil es nicht vor unserer eigenen Tür passiert. Doch was wenn doch?
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Eine Familie. Ein Elternpaar und zwei Kinder.
Sie lebt im 21. Jahrhundert. Um genau zu sein, im Jahr 2016.
Mitten in Europa.
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