Geschwisterliebe
„Geh bitte!“, sage ich zu meiner Schwester jetzt sicher schon zum hundertsten Mal. Wie kann ihr nur alle fünf Minuten ein neuer Grund einfallen, wieder in mein Zimmer zu platzen und mich beim Lesen zu stören mit ihren tausend Fragen und Aufforderungen, mit ihr zu spielen? !
Beim hundertersten Mal, als sie wieder ohne zu klopfen in mein Zimmer stürmt, reißt mein Geduldsfaden. „Hast du nichts Besseres zu tun als mich ständig zu nerven? Ich will nicht mit dir spielen, ich will deine Fragen nicht hören und schon gar keine beantworten, merkst du das nicht? Zieh Leine!“, schrei ich. Daraufhin fängt sie an zu weinen. Völlig ohne Grund, meiner Meinung nach. Sie hätte damit rechnen müssen, dass ich bald keine Lust mehr habe mich von ihr reizen zu lassen. Immerhin rennt sie jetzt aus meinem Zimmer und, nachdem ich die Tür zum wiederholten Mal hinter ihr schließe, habe ich jetzt endlich meine Ruhe.
Zehn Minuten später gebe ich es auf, mein Buch weiterzulesen. Bei dieser Totenstille kann sich keiner konzentrieren. Außerdem fühle ich mich zunehmend schlecht dafür meine Schwester angeschrien zu haben. Sie ist erst vier Jahre alt und versteht meistens noch nicht, dass es außer Spielen und Quasseln noch anderes gibt.
Mit einem Seufzer stehe ich auf und mache mich auf den Weg zu ihrem Kinderzimmer. Als ich die Türe einen Spalt öffne und ins Zimmer spähe, sehe ich sie, auf dem Boden sitzend, mit ihren Puppen spielen, während immer noch vereinzelte Tränen über ihre Backen rollen.
„Hey“, flüstere ich. Sie sagt trotzig, ohne aufzusehen: „Geh weg.“ „Ach komm, es tut mir leid, dass ich geschrien habe, aber du hattest es echt verdient“, kontere ich. Ihrem Gesichtsausdruck nach, war das nicht das was sie hören wollte. In einem versöhnlicherem Ton füge ich hinzu: „Ich hätte jetzt Zeit. Wir könnten Alice im Wunderland lesen, wenn du möchtest?“ Mit „wir“ meine ich mich, da meine Schwester noch nicht lesen kann, aber es funktioniert. Ihr Gesicht hellt beim Namen ihres Lieblingsbuches auf und der vorige Streit scheint vergessen.
Sie wartet ungeduldig und redet schon wieder ohne Punkt und Komma, während ich das Buch vom Regal ziehe. Aber was will man machen, schlussendlich mag man sie ja trotzdem… zumindest meistens.
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