Gibt es genug Sterne?
Das Schönste, was sie je gesehen hatte, war das Sternenzelt über einem Meer aus Nachtlichtern einer pulsierenden Stadt. Von oben war es wie ein dunkles Dach, auf dem in einem wilden Muster verteilt unterschiedlich stark leuchtende Punkte gemalt wurden. Doch die Sterne leuchteten nicht nur, sie strahlten eine Stärke aus, die sie unerreichbar machte. Unter ihr erstrahlte die Stadt, mit Farben so reich wie ein schimmernder Palast der Morgensonne.
Gab es genug Sterne für jeden Menschen? Genug Lichter, unerreichbar und schön, und so weit von dort entfernt, wo man gerade bewegungslos stand?
Ein Mensch war ein Stern, und sein Wille sein Leuchten. Einzigartig, unantastbar, leicht. Irgendwo verteilt im riesigen, unendlichen Universum.
Sie saß auf einer Klippe, hoch über der lebendigen Stadt. Doch diese Stadt war nur zu einem Teil farbenfroh.
Am Horizont der Nacht zogen Wolken auf, und dort, wo sie ihre langen, tiefen Schatten warfen, verlor sich das Licht in der Tiefe der Dunkelheit.
Angst krabbelte ihren Nacken hinauf. Sie wollte nicht, dass die Sterne gingen. Was würde sie dann tun? Was würde ihre Welt bescheinen, wenn der Tag sich schlafen legte? Würde es einen Tag noch geben, wenn die Sterne gingen?
Denn wenn die schwarzen Wolken eine lebendige Nacht verdecken konnten, würden auch das Leuchten der Sterne in ihnen verschwinden.
Irgendwo hatte sie einmal gehört, Sterne seien auch nur weite, unerreichbare Sonnen, noch viel, viel größer als ihre eigene Sonne sein sollte. Wenn sie gingen, würde ihre Sonne mitgehen?
Menschen waren so glücklich, wenn ihr Stern in ihnen aufging. Wenn das Leuchten sie umhüllte und ein weiteres Funkeln im unendlichen, weiten Universum die schimmernde Matrix erweiterte, welche das Zelt aller Wünsche und Träume bildete.
Gab es genug Platz für alle Sterne? Existierten überhaupt genug Sterne?
Ein Universum so unendlich und Sterne so hell scheinend, dass Wunder in einer Dunkelheit entstehen konnten, die tiefer nicht erdenklich war.
Sie blickte nach unten. Das Leben der Stadt war verschwunden. Schwarze Wolken hatten jeden Keim im Boden erstickt, jeden Versuch, als Quelle Licht zu spenden.
Eigentlich wollte sie nicht nach oben blicken, eigentlich zitterte sie sogar.
Sie sah kaum noch ein Leuchten. Nur dichten Rauch, zusammen gepresst zu gewaltigen Wolken.
Ihre Atmung ging flacher. Ihre Finger krallten sich in einzelne, dünne Grashalme. Steine bröckelten von der Felswand in den tiefen, nicht endenden Abgrund hinab, als ihre Füße gegen den Stein stießen.
Lichter erloschen immer schneller, eines rascher als das andere. Würde es noch genug Sterne geben, sodass jeder Mensch und jede Seele ihre eigene Sonne haben konnte? Unter diesem großen, großen Zelt, das wie ein dichter Nebel die Augen verschloss? Jeder Stern war eine einzelne Lichtquelle für einen einzigen Menschen.
Wenn sie verschwanden, vertrieben von den schweren Wolken, würde es dann noch genug Sterne geben?
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