Glas
Fühlt es sich manchmal so an, als wärst du durchsichtig?
Wie ein Mensch aus Glas, in einer Stadt aus Glas, durch die alle sehen aber doch nichts verstehen können, weil sie alle an dir vorbeigehen, geblendet von dem kühlen Sonnenlicht, das dein Glaskörper reflektiert; und du blickst an ihnen genauso vorbei, weil du Angst hast, in ihnen etwas zu sehen, das du nicht sehen willst.
Manchmal gehst du durch deine Glasstadt; und du fragst dich, warum; denn du könntest auch einfach aus deinem Fenster zuhause blicken und bis zum Ende der Stadt sehen, weil alles so wunderbar durchsichtig ist.
Aber vielleicht hoffst du trotzdem etwas zu finden, denn du suchst und suchst und suchst, aber deine Wahrnehmung gleitet daran vorbei, weil du und wir alle so sehr daran gewöhnt sind, alles zu durchschauen und zu verstehen. So sehr, dass wir es nicht mehr erkennen, wenn es sich nicht auf den ersten Blick erkenntlich zeigt. Wir sind alle schon so müde vom Suchen und immer noch so hungrig nach dem, was wir suchen; und wir kennen das Glas in unserer Glasstadt auswendig, sodass unsere müden Augen, gefüllt mit Glastränen, den kleinen Regenbogen, der vom Glas gespiegelt wird, nicht erkennen. Darum gehen wir weiter durch unsere Glasstadt und sehen uns nicht an, weil wir das Offensichtliche nicht sehen wollen, nicht geblendet werden wollen; und uns selbst in der Spiegelung nicht erblicken wollen.
Aber jetzt schmilzt unser Glas. Es tropft und tropft und tropft und es rinnt über unsere Glasstraßen und nach und nach schmelzen auch wir, mit unseren Glaskörpern, dahin. Endlich sehen wir uns an, endlich drehen wir uns um, sodass wir einander sehen können. Und in den letzten Momenten unseres Daseins als festes Glas blicken wir uns an und erkennen, was wir falsch gemacht haben. Zum ersten Mal sehen wir nicht durch das Glas hindurch, sondern wir erkennen, was für uns davor nicht sichtbar war.
Aber es ist zu spät. Es war schon die ganze Zeit zu spät, aber niemand hat es bemerkt. Alles schmilzt; unser Glas rinnt in zähflüssigen Strömen davon, und wir mit ihm, bis von unserer Glasstadt nichts mehr übrigbleibt. Bis es nichts mehr gibt, von dem später jemand erzählen wird, bis alles verschwunden ist, was wir als unseres bezeichnen können.
So schwimmt unser Glas davon, so schwimmen wir davon. Vom Himmel regnet es flüssiges Glas. Aber es kommt nicht wirklich vom Himmel; es sind die Turmspitzen, die weit in die Glaswolken reichen, und nun auch schmelzen. Die Turmspitzen, an denen wir so lange gebaut haben. Sie sind nur Glas, so wie wir und sie fallen auf uns hinab, weil wir alle nur nutzloses Glas sind, das der Hitze nicht standhalten kann.
Die Menschen, die sogenannte Krone der Schöpfung, alles ist nur Glas und alles zerbricht wie Glas.
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