Glasmurmelwunder
Zukunft. Etwas Ungewisses, oder doch Voraussehbares? Nun, ich war schon immer fasziniert von dem, was sein wird. Wie oft habe ich mir abends ausgemalt, was denn am nächsten Tag alles so passieren könnte. Ich war gespannt auf den nächsten Tag, was davon so passieren wird, wie ich es mir am Abend zuvor überlegt hatte oder was mich dann doch völlig unerwartet überrumpeln wird.
Inzwischen war ich nur mehr eine alte Frau. Eine alte Frau, ohne Zukunft, denn ich hatte Krebs. Ich war gezwungen zuzusehen, wie mein Leben von Tag zu Tag immer trüber wurde, wie das Blumenwasser einer Glasvase, die im Wohnzimmerregal vergessen wurde. Meine Ärzte rieten mir, mich zu schonen und zu Hause zu bleiben, sie versuchten es erst gar nicht mehr zu verbergen, dass ich aufgrund meines Alters chancenlos gegen den Krebs kämpfte.
Ich saß in meiner Altbauwohnung, und sah aus dem Fenster, so wie ich es gestern und auch alle Abende zuvor so gemacht habe. Während ich einem Regentropfen zusah, wie er die Glasscheibe hinunterkullerte, kam plötzlich eine Erinnerung in mir hoch. Sommer 1952. Ich war 16 Jahre alt, und mit meinen Eltern auf Urlaub. Es war spät, doch ich konnte nicht einschlafen. Ich entschied mich dazu, einen kurzen Spaziergang am Strand zu unternehmen, um dem Meer auf Wiedersehen zu sagen. Im fahlen Mondlicht konnte ich nur erahnen, wo ich hintrat. Plötzlich stieß ich mit meinem großen Zeh an etwas Hartes. Es war ein kleines, schwarzes Holzkästchen. Neugierig steckte ich es in die Tasche meines Sommerkleidchens. Dann verblasste die Erinnerung.
Mein Herzschlag beschleunigte sich, ich stand auf und eilte zum Dachboden. Stundenlang durchsuchte ich alles, bis mir schließlich das kleine, schwarze Holzkästchen ins Auge stach. Im Schächtelchen befand sich eine Glasmurmel. In ihrem Inneren waren sich unzählige, getrocknete Blütenblätter. Ich war überwältigt von ihrer Schönheit und hielt sie ganz nah an mein Auge. Und da passierte es: die Blütenblättchen verschwanden, alles wurde trüb. Doch einen Lidschlag später war ein ganz scharfes Bild zu sehen: Eine alte Frau streckte sich, und erhob sich aus ihrem Bett. Sie ging zum Fenster, lehnte sich hinaus, und atmete die frische Frühlingsluft ein. Sie lächelte, und sie strahlte nur so vor Glück. Mir viel auf, dass mir diese Frau sehr ähnelte, nur ein paar Jährchen älter vielleicht. Ich spürte vom einen auf den anderen Augenblick wieder Energie in mir auflodern, die ich all die vergangenen Jahre nie gespürt habe. Plötzlich wusste ich: Ich durfte den Kampf gegen den Krebs nicht aufgegeben. So war meine Zukunft nicht vorgesehen. Und tatsächlich: 8 Monate später stellten die Ärzte verwundert fest, dass sich keine bösartigen Tumorzellen mehr in meinem Körper befanden. Die Geschichte, meine Geschichte, dass eine so alte Frau den Krebs überlebt hatte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Wie oft wurde ich gefragt, wie ich es geschafft habe. Meine Antwort lautete immer: „Muss am Zukunftszauber liegen“, dabei lächelte ich.
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