Glassplitter
Sie starrte auf die Glassplitter, die überall auf dem Boden verstreut waren. Und irgendwie erinnerten die vielen kleinen Bruchteile sie an ihre Beziehung. Das Glas war ihr aus der Hand gerutscht und sie konnte nur noch zuschauen, wie es zu Boden fiel. Es war mit einem lauten Klirren zerschellt und die Scherben hatten sich in der ganzen Küche verteilt.
Sie hatte einmal gelesen, dass ein Frosch sofort heraussprang, wenn man ihn in heißes Wasser warf. Logisch. Wenn man den Frosch aber in kaltes Wasser setzte und dieses langsam zum Kochen brachte, blieb der Frosch darin, bis er starb. Wahrscheinlich hätte sie sich nicht in ihn verliebt, wenn er von Anfang an so herzlos gewesen wäre, wie er es jetzt war. Wie der Frosch, wäre sie davongelaufen. Aber ihre Beziehung war anfangs wunderbar, und irgendwann war es bergab gegangen. Trotzdem blieb sie, auch wenn sie ganz genau wusste, dass er ihr nicht mehr gut tat. Einfach, weil sie nicht wusste, wann sie die Grenze ziehen musste. Wann war das Wasser heiß genug? Wann war die Beziehung zerstört genug? Sie war ratlos. Und sie kam sich so verdammt lächerlich vor, weil sie sich an ihn klammerte, auch wenn er sie kaputt machte.
Und das, obwohl sie früher so fröhlich, so selbstbewusst und so redselig gewesen war. Sie hatte immer förmlich gestrahlt und ihr Lachen war unglaublich ansteckend gewesen. Wie ein buntes Bild eines lebendigen Jahrmarkts. Aber er hatte dieses farbenfrohe Bild in ein zerfleddertes schwarz-weiß Foto verwandelt. Ihr Lachen war schon seit Ewigkeiten nicht mehr erklungen und ihre Fröhlichkeit war auch verschwunden. Sie hatte irgendwann einen Punkt erreicht, an dem sie mehr auf den Boden starrte, als in den Himmel blickte. Und trotzdem war das nicht genug um sie zu verjagen.
Stattdessen fragte sie sich, ob sie genug war. War sie interessant genug? War sie intelligent genug? War sie hübsch genug? War sie überhaupt, in irgendeiner Weise, auch nur ansatzweise gut genug für ihn? Auch wenn sie selbst vom Gegenteil überzeugt war: sie war es. Sie war genug. Vielleicht war sie auch zu viel und verdiente noch mehr. Aber jemanden, den man liebte, hinter sich zu lassen war schwer. Und sie glaubte, dass sie niemals über ihn hinweg kommen würde. Aber genauso hatte sie auch geglaubt, dass er der Richtige für sie war.
Sie seufzte, holte den Handbesen aus dem Wandschrank und kniete sich auf den Boden, um die Scherben zusammenzufegen. Egal wie viel Mühe sie sich geben würde, sie würde die vielen Bruchstücke niemals wieder zu einem perfekten Glas zusammensetzen können. Nicht einmal zu etwas, das einem Glas auch nur ähnlich sein würde. Und genau das galt auch für ihre Beziehung.
Es dauerte nicht lange, bis sie alle Splitter auf die Kehrschaufel gefegt hatte. Dann stand sie auf, lief zum Mülleimer und kippte die scharfkantigen Scherben hinein.
Manchmal musste man Beziehungen einfach beenden. Nicht nur, wenn man selbst nicht mehr genug liebte. Sondern auch dann, wenn man nicht mehr genug geliebt wurde.
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