Goldene Blumen
Der Wind spielte sanft mit den Blättern, als Chara den alten Holztisch auf der Veranda abstaubte. Es war Sommer und die Luft war schwer von den Düften der goldenen Blumen des Gartens. Der Himmel strahlte in einem hellen Blau und die Sonne tauchte den Garten in ein warmes Licht. Chara legte das Tuch zur Seite und setzte sich. In ihren Händen hielt sie ein Foto.
Auf dem Bild waren zwei Personen: eine junge Chara und ihr älterer Bruder Tobias. Sie hielten beide Sträuße der goldenen Blumen, welche im Garten gediehen. Das Mädchen lächelte wehmütig. Es war einer dieser kostbaren Augenblicke, die sie nie vergessen würde. Ihr Bruder war vor einem Monat im Krieg umgekommen, doch die gemeinsamen Erinnerungen lebten in ihr weiter.
Sie schloss die Augen und ließ sich von den Erinnerungen tragen. Chara sah sich und ihren Bruder als Kinder vor sich, als sie gemeinsam zur Überraschung für ihren Vater einen Kuchen backen wollten. Die beiden hatten weder gewusst, dass man bei einem Kuchen keine ganzen Eier verwendet, noch wie man ein Rezept liest. Der Kuchen war zwar nicht gelungen, doch sie erinnerte sich noch gerne an den Tag.
Ein anderer Moment kam Chara in den Sinn. Tobias und sie spielten im frisch verschneiten Garten. Ihr Bruder hatte sie in Übermut mit einem Schneeball an den Kopf getroffen. Chara hatte zu weinen begonnen und Tobias fühlte sich so schlecht, dass er sofort mit ihr ins Haus ging, ihr Kakao zubereitete und ihr den Rest des Abends vor der Feuerstelle vorlas.
Die Zeit verging und die Geschwister wuchsen heran. Ihre Wege trennten sich, doch ihre Bindung blieb stark. Chara erinnerte sich an den letzten Tag, den sie zusammen verbracht hatten. Tobias wusste bereits, dass er einberufen werden würde, doch er bestand darauf, noch einmal gemeinsam den Garten zu genießen. Sie saßen zwischen den goldenen Blumen, erzählten Geschichten, lachten und blickten zurück auf ihre Kindheit. Es war ein Augenblick des Abschieds gewesen, doch auch einer der Verbundenheit.
Der Wind spielte erneut mit den Blättern und Chara öffnete ihre Augen. Sie legte die Fotografie behutsam zurück auf den Tisch und lächelte. Die Trauer war zwar noch frisch, doch sie wurde von einer tiefen Dankbarkeit überschattet. Das Mädchen blinzelte eine Träne aus ihrem Auge, dankbar, dass sie die Chance hatte, solch kostbare Augenblicke mit ihrem Bruder zu verbringen.
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