Grenzen - Ein Dialog im Himmel
Vor ihnen erstreckten sich unendlich weit die Wolken, die nur an einem fernen Horizont ihr Ende zu nehmen schienen.
„Selbst dahinter geht es noch weiter“, sagte Mephistopheles und deutete in die Ferne. Gott streifte die armselige Gestalt kurz mit seinem Blick und antwortete: „Mein Reich soll unendlich sein.“
„Aber ist es das auch?“
„Für denjenigen, der es verdient.“
„Ha! Verdienst? Das bin ich von dir gar nicht gewohnt.“
„Auch ich habe mich verändert, mein Sohn.“
„Ach, lass es. Würdest du mich nicht so nennen, hätten wir beide es miteinander nicht so schwer.“
Gott lächelte; nun verirrte sich auch sein Blick an der nebeligen Linie, die den rot schimmernden Himmel eines neuen Morgens von der flauschigen, weißen Decke trennte.
„Du hast es schwer, Mephisto?“
„Ja, natürlich. Was spricht fürs Gegenteil? Eine frische Seele lag gestern Abend noch unberührt und doch voll Weisheit auf dem Altar. Gerade wollt ich sie verspeisen, da hat sich dein Trio der Rechtschaffenen hinabbegeben und – zack – war die Seele weg. Aber sag, was passiert jetzt eigentlich mit Faust?“
„Ich bin ehrlich: Ich weiß es noch nicht. Er soll mir noch einige Jahre dienlich sein, dann wird ihm seine Erlösung vielleicht auch geschenkt.“
„So willst auch du ihn zu deinem Knecht machen?“
„Erinnerst du dich noch an unsere Wette.“
„Ja, vor fünfzig Jahren oder mehr“, Mephistopheles wurde sentimental.
„Gewiss, er war ein Mann, der keine Grenzen kannte“, fuhr Gott fort.
„Doch“, widersprach Mephisto, „er hat sie nur missachtet. Das ist alles.“
„Ist das denn schlecht?“
„Keinesfalls. Nur die Folgen… Menschen sind manchmal unglaublich naiv. Ich denke, das können wir uns nicht vorstellen.“
„Ich habe ihnen Emotionen geschenkt, ja.“
Mephisto wandte sich ab, ging auf und ab, sprach: „Ah, freilich, die Gefühle der Menschen, die sind manchmal ganz und gar hinderlich. Warum mussten die sein?“
„Für Menschen sind Gefühle, wir Buchstaben für ein Buch. Das Buch kann zwar auch unbeschrieben sein und ewig so bleiben, aber dann ist es noch nicht vollständig. Selbst Notizbücher haben den Zweck, beschrieben zu werden. So ist auch der Mensch erst ganz er selbst, wenn er fühlt, wenn er leidet und triumphiert, wenn er in Rage gerät und mit alten Konventionen bricht; und wenn er neue Werte schafft. All dies geschieht, weil Menschen fühlen.“
„Deshalb geschieht im Himmel auch nichts Neues.“
„Über die Einzelheiten müssen wir hier nicht reden.“
„Na klar, die will ich auch gar nicht wissen. Also“, der Dämon knöpfte sich den Mantel zu, ergriff seinen Stock, machte sich bereit, zu gehen, „ich muss dann mal. Nur eines sollst du noch wissen. Ich kann deinen Enthusiasmus nicht verstehen, deinen Glauben an diese ewige Veränderung in der Welt, an den Bruch mit dem Alten und ans Errichten des Neuen. Sieh dir die Welt doch einmal an. Und schau genau hin. Ich sage dir, es ist den ewig Schlummernden ein schwacher Trost, die Welt nicht mehr zu sehen.“
Er machte kehrt, der Nebel wurde dichter und Mephistopheles verschwand darin.
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