Grenzenvon Isabella Springer
Katarina, 16, hat genug. Sie war als Klassensprecherin gewählt worden, vor genau 6 Jahren, was sich bis jetzt nicht geändert hat. Früher hatte sie das mit mächtigem Stolz erfüllt, sie hatte sich beliebt und ernst genommen gefühlt, doch irgendwann war da diese eine Frage in ihrem Kopf aufgetaucht, die sich festsetzte wie ein Blutegel und nicht mehr schwand. . .
Begonnen hatte alles mit dem Anfang. Der Anfang war der erste Schultag gewesen, das ganze erste Schuljahr. 1A hieß die Klasse und oh, wie aufregend alles gewesen war. Es hatten sich auf den ersten Blick Gruppen gebildet. Wer war cool, wer sollte besser an den Rand gedrängt werden. Das sah man schon auf den ersten Blick.
Die coolsten waren die große Mädchenclique und die etwas weniger große Jungenclique, die sich schon damals irgendwie ergänzten. Wer zu ihnen gehörte, gehörte zu ihnen. Ganz einfach.
Es gab auch einen seltsamen Jungen, der keine richtigen Freunde hatte, der jeden Tag von seinem Vater in einem protzigen Auto abgeholt wurde und hier und da mit einem blauen Auge in die Schule kam. Der war allen irgendwie unheimlich, man fürchtete sich, aber besonders fürchtete sich Lisa.
Er mochte Lisa nicht. Er hatte es sich zum Hobby gemacht, Lisa zu verletzten, jeden Tag, bis sie weinte, jeden Tag. Anfangs hatten alle unheimlich Mitleid mit ihr. Irgendwann begann man zu tuscheln, Lisa wolle doch nur Aufmerksamkeit.
Genauso uncool war Fatima. Emily und Lina hatten ihr irgendwann gesagt sie sei „schirch“ weil sie einen kleinen Flaum auf der Oberlippe und ein paar Achselhaare hatte. Niemand widersprach, also war sie eben ab da nur noch schirch.
Glücklich waren die Ausnahmen, die keine Freunde brauchten. Zum Beispiel Tatjana, die die Schule durch ihre häufige Nicht-Anwesenheit beehrte und sich durch die clevere Taktik vor dem erneuten Wiederholen rettete, in dem sie ihr T-Shirt sehr, sehr weit hinunter rutschen ließ, wann immer sie mit den Lehrern sprach. Interessanterweise funktionierte das ganz gut.
Jetzt ist die Klasse nicht mehr die 1A, sondern die 6A.
Tatjana verdient als Lehrling ihr Geld, ihr war Schule zu viel Arbeit.
Fatima hat sich verändert. Sie ist dünner und dünner geworden, sie lacht falsch und schminkt sich jetzt so stark, dass man ihr Gesicht nicht sieht. Die Lehrer wundern sich, was nur mit dem armen Mädchen geschehen ist.
Die Mädchenclique, die sich früher als BFFF bezeichnet hatte, vertraut sich schon lange nicht mehr.
Aus dem seltsamen Jungen ohne Freunde ist ein seltsamer Schläger mit sehr vielen Freunden geworden. Nicht selten kommt es vor, dass er, wenn er am Gang gestupst wird, mit voller Absicht seine Schultasche fallen lässt, um sein Gegenüber zornerfüllt zu attackierern.
Noch immer macht es ihm Spaß, Lisa zu verletzen, obwohl ganz groß und dunkelrot NEIN auf ihrem Arm steht, über all den anderen fingerdicken Narben.
Katarina hat genug vom Terror, genug vom Vertreten, genug von der Unfähigkeit, etwas zu unternehmen.
Und irgendwann war da diese eine Frage in Katarinas Kopf aufgetaucht, die sich festsetzte wie ein Blutegel und sie schon viel zu lange quälte: Wann würde die Klasse endlich sehen, dass die Grenze von Anfang an überschritten war.
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