Haben Sie Wien schon bei Nacht gesehen?
Es ist nicht ganz so, wie Fendrich es einst versprach, auch wenn man im Vorhinein keinen Walzerklang oder Herzen aus Gold erwartet hat. Wien bei Nacht ist wie in eine andere Welt einzutauchen. Wenn man zu lange alleine durch die Gassen schlendert, wird man ein wenig wunderlich, verliert sich in seinen eigenen Gedanken.
Hinter verschlossenen Fenstern sehe ich manchmal Familien beim Fernsehen und auch wenn ich besser vorbeigehen sollte, bleibe ich eben doch stehen und schau ihnen kurz zu.
Sie sind aufmerksam, lachen oder regen sich auf und dann schweigen sie wieder gemeinsam. Nichtsahnend von den jungen Menschen, die unten auf der Gehsteigkante vor ihrer Wohnung sitzen. Philosophisch am Boden ihrer Bierdosen einen Sinn in ihrem Leben suchen und dabei groß über Konstellationen und Sterne reden.
Ab und zu überkommt mich der Gedanke, ob ich so geworden bin, wie meine Eltern gehofft haben. Ich frage mich das in Momenten, wenn meine Mama seufzt und „Geh bitte“ sagt. Sie sagt es ganz nebenbei und trotzdem höre ich es Tage danach noch ganz deutlich. Mit Wörtern wie diesen nimmt sie mir an Relevanz. Es lässt meine unbestreitbare Existenz gleichgültiger wirken, so als ob sie nicht mehr Wörter auf mein Handeln verschwenden will.
Für die Familien hinter den Fenstern ist die Welt in Ordnung. Als Außenstehender kann man sich nicht vorstellen, dass die Familien bald den Fernseher ausschalten, aufstehen und schlafen gehen werden. Sie leben in einer kleinen Unendlichkeit der Stille.
Draußen auf der Straße lächeln mich viele hübsche, unbekannte Gesichter an, ab und zu grüßt mich jemand. Zwischen all den kaputten Leben und der hoffnungslosen Apathie wirkt es fast absurd. Ich zwinge mich den schönen Menschen zurückzulächeln, dabei weiß ich ganz genau, dass Schönheit nicht das Wesentliche ist. Unterbewusst wissen wir es alle, doch keiner würde es je zugeben: Wir leben in einer oberflächlichen Gesellschaft. Solange alles perfekt wirkt, versuchen wir nicht einmal die Vollkommenheit in Frage zu stellen.
Nur ein paar Meter weiter entfernt von den jungen Menschen sind die Straßen wieder menschenleer und ruhig. Obwohl es nie ganz dunkel ist, scheint hin und wieder noch eine Reklameschild besonders hell auf die glänzende Straße. Zu selten bleibe ich stehen und lasse ein Bild auf mich wirken. Wir haben verlernt unsere Umgebung zu spüren. Unwillkürlich filtert unser Gehirn Sinneseindrücke, die es als unwichtig empfindet. Wien ist eine schnelle Stadt - nichts ist für die Ewigkeit gedacht. Wenn Leute sagen, Wien sei kein Ort, sondern ein Gefühl, dann glaube ich ihnen. Auch wenn ich einen Moment mit meinen Augen wahrnehme, so kommt er fast nie in meinem Herzen an. Die Luft ist kühl und es riecht fremd. Die namenlosen Gesichter nehme ich kaum noch wahr. Zu laut sind meine Gedanken.
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