Hals über Kopf
Wie jeden Morgen machte mich auf, um etwas Wasser zu besorgen. Der Leser wird sich nun fragen, an welchem Ort ich mich denn befand, als jener Tag anbrach. Ich befand mich zu jener Zeit nicht in irgendeiner entlegenen Ortschaft, nein, die Stadt, in der ich mich aufhielt, nannte sich Palmyra, ein Ort mit einer historisch sehr reichen Vorgeschichte, der Kulturinteressierten auf der ganzen Welt bekannt war. Jedoch war meine Stadt nun kein kulturelles Zentrum mehr, sondern Schauplatz eines schlimmen, schrecklichen Krieges.
Als ich vor 16 Jahren geboren wurde, war Palmyra noch ein schöner Platz zum Leben. Wasser, Strom und auch Lebensmittel sowie ein sicheres Zuhause waren eine Selbstverständlichkeit – man hätte unsere Heimat auch mit einer lebenswerten Stadt in Europa vergleichen können und einer außenstehenden Person wäre sicherlich kein maßgebender Unterschied ins Auge gestochen.
Doch jetzt ist alles anders: Häuser und kulturelle Wahrzeichen gibt es nicht mehr, die ganze Stadt ist zerstört.
Nachdem ich mit meinen Gedanken wieder in die Realität zurückgefunden hatte, entschloss ich mich dazu, aufzubrechen.
Im Vorübergehen betrachtete ich die Stadt, welche in Trümmern lag.
Kein einziges Gebäude war von der Zerstörung verschont geblieben. Statt meines Wohnhauses, meiner Schule und der kulturell bedeutsamen Wahrzeichen waren nur Schutthaufen vorzufinden.
Die wenigen noch ergiebigen Brunnen waren alle von Menschenmengen umringt. Wasser war sehr knapp und die Lufttemperatur stieg bereits jetzt, am Beginn des Tages, auf ansehnliche 45 Grad.
Als ich mich vor dem Brunnen in die wartende Menge einreihte, traf ich einen alten Freund, welcher mit mir die Schule besucht hatte. Wir beide hatten uns seinerzeit gut verstanden, doch hatten wir uns durch die Umstände des Krieges etwas aus den Augen verloren. Wir waren nicht gerne in die Schule gegangen, doch heute wären wir froh über einen geordneten Schulalltag wie damals.
Wir unterhielten uns ziemlich lange über Dinge, die uns beide beschäftigten: den Tod unserer Lieben, die Einsamkeit und letztendlich über die Perspektivenlosigkeit unseres Lebens.
Als wir uns schließlich trennten, beschlossen wir, uns heute Abend beim alten Bahnhofsgebäude zu treffen.
Zum vereinbarten Zeitpunkt erblickte ich ihn bereits von Weitem. Auch er hatte – gleich wie ich – einen großen Rucksack umgeschnallt. Wir nickten einander zu, es brauchte keine Worte. Wir waren uns einig: „Wir gehen fort von hier.“ Es war damit keine Reise gemeint – sondern die Flucht.
„So ganz Hals über Kopf, meinst du, es ist dumm, oder meinst du, es ist klug?“, fragte er mich. Ich antwortete: „Weder noch, glaube mir. Es ist das einzig Richtige, was man in unserer Situation tun kann. Hier haben wir keine Heimat mehr, keine Familie und auch kein Zuhause. Es wird sicherlich schwer, anderswo eine Heimat zu finden. Doch wir müssen es wagen, um einer besseren Zukunft Willen.“
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