Heimat
Liebe Oma,
wie gehst du so schnell? Mama und ich machen oft Witze, wenn wir spazieren gehen, dass du rennst. Manchmal frage ich mich, ob ich deshalb immer schneller gehe als andere. Ich bin immer der, der wartet.
Das lustige ist, dass die Fußpflege die einzige Pflege ist, die du beanspruchst. Bevor Opa gestorben ist, dachte ich wirklich, du bist unkaputtbar. So wie er; obwohl er immer Probleme mit den Füßen hatte. Opa ging langsam. In dem Foto, das noch bei dir hängt, liegen er und ich nebeneinander in einem Nickerchen. Mehr will ich nicht von ihm, nur das Bild und seine Jacke.
Du hast mir deine Rückenschmerzen vererbt. Das Patrasso-S, Skoliose. Als mein Onkel mir gesagt hat, dass du Patrasso geheißen hast, dachte ich, dass der Name vielleicht der Schlüssel zu meiner Heimat sein könnte. In Österreich fehlt mir immer das Heim in Heimat und das, obwohl du dich mit „na, geh bitte!“ aufregst, wenn im SPAR mit englischen Wörtern geworben wird. Hättest du Patrasso gewählt, wenn du die Wahl gehabt hättest? Beim letzten Familienessen sind wir draufgekommen, dass wir uns alle öfter verschlucken als andere und dass das von dir kommt.
Ich weiß, dass du keine Anglizismen magst. Du denkst, sie zeigen einen Mangel an Intelligenz. Ich will Linguist werden und das, was ich bisher gelernt habe, ist, dass sich Sprache verändert. Manchmal höre ich dir zu und frage mich, ob du wirklich so gegen Veränderung bist. Was, wenn du Angst vor Neuem hast? Was wirst du sagen, wenn ich mit dem Wort „Transgender“ zu dir komme? Vielleicht wird „Enkel“ ein neues Fremdwort, das man nicht lernen kann, genauso wie „er“. Ich will kein Anglizismus sein.
Wenn ich lache, sehe ich Mama und dich in meinem Gesicht. Das macht mir Angst. Was, wenn ich dir meinen Namen sage und du mich rauswirfst? Was, wenn ich dann beim Lachen dein Gesicht sehe?
Meine erste Erinnerung an dich ist, als du mir im Kindergarten die Haut am Kinn im Radhelmverschluss eingezwickt hast. Ich hab geweint. Oft frage ich mich, was passiert wäre, wenn ich als Junge auf die Welt gekommen wäre. Hättest du mir dann gesagt, ich soll nicht heulen? Wenn ich diesmal weine, weil Fahrradfahren nicht geht, gehst du dann mit mir spazieren?
Oma, ich will nicht mehr wegrennen. Vor allem nicht vor dir.
Liebe Grüße,
Mo
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:




















Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX