Herr Onclaire
Herr Onclaire schlurfte die Straßen entlang. Wenn er unterwegs war, tat er das immer schlurfend.
An jenem Tag, dem vierundzwanzigsten Oktober 1991, war es regnerisch und grau. Relativ kalt.
Deshalb trug Herr Onclaire seinen grauen Hut, sein graues Jackett und seine grau melierten Slacks.
Während er in seiner gänzlich grauen Bekleidung die breite Rue de Rivoli passierte, sprach ihn jemand an. „Monsieur, benötigen sie keinen Regenschirm?“
Onclaire sah zum Himmel hinauf, Regentropfen schmückten seine Nase.
„Geh bitte“, erwiderte er. „Aus dem Weg“, fügte er dann hinzu.
Doch er war es, der nun einen Bogen um das verdutzte Gesicht machen musste.
Daraufhin schlurfte er weiter, richtete den Blick auf sein nasses Paris.
„Ihre Schuhe, sie weichen doch bestimmt auf“, sprach ihn eine alte Dame ein paar Meter weiter an.
„Gehen Sie bitte aus dem Weg.“
Darauf fiel die Dame empört hinter ihm zurück.
Doch das störte ihn nicht – ihn störte es, wenn die Leute ihm nicht aus dem Weg gingen. Es war nämlich ein langer, der Weg ohne Ziel; weshalb er sich doch beeilen musste, und nicht von Leuten, die ihm aus unerklärlichen Gründen unbedingt helfen wollten aufgehalten werden.
Doch es kam, wie es kam, und die nächste Person am Straßenrand versicherte ihm, er lüde ihn auf einen Café au Lait ein, wenn er doch bitte mit ihm ins Warme kommen täte.
„Junger Mann“, sagte Herr Onclaire ruhig, „geh doch bitte aus dem Weg.“
So ging der junge Mann aus dem Weg, und Onclaire marschierte auf die Seine zu.
Ein Maler blickte von seiner Staffelei auf. Aus seinem Zelt rief er hervor: „Ende Oktober haben wir, Monsieur! Sie scheinen ein warmes Bad zu gebrauchen - ich rufe Ihnen ein Taxi, was sagen Sie?“
Herr Onclaire sagte, er solle aus dem Weg gehen. Diesmal sehr höflich. Er merkte aber nicht, dass es diesmal gar nichts zum aus-dem-Weg-gehen-gab.
Er wusste, die Leute waren besorgt um ihn, aber das Warum konnte er nicht begreifen. Der gute Onclaire wollte doch bloß das verdammte Ziel finden! Wie konnte der Weg ohne Ziel einfach keines haben, fragte er sich still. Dazu noch gingen ihm die Leute immer erst dann aus dem Weg, wenn er sie darum gebeten hatte!
Das viele Denken machte ihn noch träger, also bog er wieder rechts ab in den Jardine des Tuileries, wo Menschen bei diesem Wetter schwer zu finden waren. Es war angenehm, nicht ständig nach dem eigenen Wohle gefragt zu werden.
Die Sonne war untergegangen, jedoch blieben die Laternen noch aus. Stattdessen begann sich ein Schleier aus Dunst über die Grünflächen des Parks auszubreiten, zumal sich der Regen langsam legte. Eine kleine Gruppe von Tauben traute sich aus dem Dickicht hervor, Onclaires Beine trugen ihn in ihre Richtung. Er sah sie sich gerne an, jede einzelne ganz genau. Sie waren grau. Wie der heutige Tag. Wie die Straßen. Wie er.
Herr Onclaire suchte nach einem Stück Brot, welches er den Tauben füttern konnte. Dann, ganz plötzlich, überlegte er sich, wie es wohl wäre, wenn ihn die Taube direkt vor ihm nun bitten würde, ihr aus dem Weg zu gehen.
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