Heute will ich lebenvon Lilian Zargartalebi
Kennst du diese Stimmung, wenn alles zu viel, aber nichts genug zu sein scheint? Stunden bittersüßen Nichtstuns häufen sich zu quälenden Tagen. Ich atme ein, atme aus. Verdrehe die Augen, checke mein Handy. Ich seufze. Wackle mit den Zehen. Meine Augen brennen, zu lange habe ich versucht mich durch Fernsehen abzulenken. Doch es langweilt mich, genau wie Gespräche, genau wie Bücher; Geschichten, die bunte Bilder mit wenig Klarheit zeichnen, leere Worte mit ewig den gleichen Handlungen. Immer und immer wieder. Belanglos, viel Wirbel um Nichts. Hast du dir nie darüber Gedanken gemacht? Innegehalten, durchgeatmet und gedacht, was mache ich da eigentlich? Und die Wahrheit, sie hat dich niedergedrückt, dir die Luft zum Atmen genommen. Und du drehst dich weiter, drehst dein Zahnrad in der Maschinerie der Welt und hörst nicht auf.
Ich hole tief Luft, drehe mich auf die Seite. Schließe die Augen, müde der Müdigkeit, und doch nicht müde genug um zu schlafen. Überschüssige Energie in meinen schlaffen Gliedern.
Ich kneife meine Lider fester zusammen, um dann prompt aufzustehen. Der Schmerz geht schneller vorüber wenn man das Pflaster rasch abreißt. Einen kurzen Moment dreht sich der Raum um mich herum, mein Kreislauf lässt mich für einen Augenblick im Stich, in dem ich gerade genug Zeit habe um zu denken ich schaffe es nicht. Kurz davor zurück in mein Bett gezwungen zu werden, fange ich mich wieder. Ich beiße die Zähne triumphierend zusammen, ziehe mit einem Ruck die Vorhänge beiseite und lasse diffuses Licht ins Zimmer. Draußen ist es neblig, der Morgen grau. Die bunten Blätter der Bäume kämpfen den Kampf der Natur gegen die herbstliche Kälte des Tages. Ich schlüpfe in meine Schuhe, werfe einen Mantel über, ziehe mir meine Mütze über die Ohren bis tief in die Stirn und öffne die Tür.
Ich laufe los, und ein echtes Lächeln huscht über mein Gesicht. Ich war des Wartens so überdrüssig geworden. Mein Herz fängt an kräftig zu pumpen, Blut rauscht durch meinen Körper, von den Füßen über die Beine, in meine klammen Finger, die sich freudig in meinen Jackentaschen ballen, durch die Brust bis in meine Ohren. Budumm, budumm. Meine Wangen werden warm, ich sehe vor mir wie ihre Röte die Kälte herausfordernd anlacht. Ich lasse meinen Blick schweifen, höre die Laute meiner Schritte im Gleichtakt zu meinem Herzschlag. Budumm. Tau auf der Wiese ist zu einem zuckrig-weißen Überzug gefroren. Winzige Kristalle vereinnahmen das Gras und dämpfen alle Farbe. Ein paar Meter weiter entdecke ich eine Kastanie, ich hebe sie auf, bewundere ihre rotbraune, hölzerne Oberfläche, streichle ihre Makellosigkeit und stecke den Fund mit kindlicher Freude in meine Tasche. Mein Herz macht einen Satz. Bubudumm. Ich laufe hastig weiter um die Kälte, die sich in meinen Gliedmaßen einnisten will, zu vertreiben. Luft strömt in einem stetigen Schwall in meine Lunge, erfüllt mich, und meine Lebensgeister erwachen. Der Nebel löst sich schleichend auf und weicht einem fahlblauen Himmel. Die Sonne scheint schwächlich durch das Blätterdach, sie malt Muster auf das Laub am Boden; ich strecke meine Hände aus, um sie einzufangen. Sie erhellt meine blasse Haut, legt blaue Adern offen, zeigt mir die Makellosigkeit der Natur auch in mir. Sie ist jedoch zu schwach um Wärme zu spenden und nach einigen Schritten ist sie wieder verschwunden. Ich muss laut über mich selbst schmunzeln und verabschiede sie wehmütig. Ich falle in einen Stechschritt, mein inneres Getriebe zwingt mich zum Weitergehen wie die Zahnräder in einem Uhrwerk. Budumm. Mein Herz klopft. Ich bin gespannt wohin es mich führt.
Ein paar Meter weiter lässt ein Eichhörnchen erschrocken seine Nuss fallen. Es richtet sich hastig auf, legt sein kleines Köpfchen schief und blickt mich abschätzend an. Ich verlangsame meinen Schritt, doch es beschließt mich als Bedrohung zu erachten und in hohen Sätzen ins Unterholz zu verschwinden. Belustigt heben sich meine Mundwinkel und ich laufe gedankenverloren weiter. Mein Atem bildet Rauchwölkchen, die singende Kälte lässt die unscheinbar kleinen Wasserteilchen darin kristallisieren und verwandelt eines der alltäglichsten Dinge in ein wunderbares Schauspiel. Die Natur ist etwas so essentiell Schönes, und doch so unbegreiflich für unseren Verstand. . . Meine Hände - jedes meiner Atome - wurde aus dieser Erde geschaffen, demselben Stoff wie das Laub, das unter meinen Füßen raschelt, demselben Stoff wie die Sterne, weit draußen im All, wie die Sonne, die ihre Strahlen bis zu uns schickt. Geboren von denselben Eltern, und deren Eltern!
Ich blicke auf die Bäume um mich herum. Fahre mit frierenden Fingern über die spröde Rinde. Wie lange diese Bäume hier wohl schon stehen. . . Sie sind viel älter als ich. . . aber das ist Nichts im Vergleich zu den Molekülen, aus denen sie bestehen. Die Menge an Materie seit dem Urknall ist konstant. Sie kann nicht erschaffen oder zerstört werden, sie wandelt sich. In all den Jahrmillionen haben wir nichts dazugewonnen, nichts verloren. Die Erde erfindet sich neu – immer und immer wieder. Jedes Baby, jeder Baum, jeder Stein – ist eine eigene Kollision, eine Neuzusammenstellung von allem, was davor war.
Die Bäume lichten sich langsam, und als ich den Wald schließlich hinter mir lasse begegne ich einer Frau mit ihrem Hund. Sorglos trottet er von einem interessant riechenden Fleck zum Nächsten. Seine Ohren wackeln im federnden Takt der Schritte. Ich bewundere seine Leichtigkeit.
Wenn dir die Beschaffenheit der Welt klar wird, erscheint dir alles wie ein Wunder. Die Ansammlung von Menschen an der Bushaltestelle – hat die Schönheit eines Sternbildes. Wir alle sind einzigartige, nicht-wiederholbare, der Zeit unterworfene und sich ihr hingebende Mikro-Universen. Es gab uns niemals zuvor, und es wird uns niemals wieder geben. . . Ich werde auch niemals wieder so sein, wie ich es jetzt gerade in dieser Sekunde bin. An diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt, mit diesen Gedanken; Haaren, die genauso vom Wind umspielt werden wie in ebendiesem Augenblicke. Ich atme zittrig ein, laufe weiter. Budumm. Allein der unglaubliche, lebendige, überwältigende Fakt unserer Existenz bringt mein Herz zum stolpern.
Der Moment, in dem du realisierst, dass du aus demselben Stoff gemacht bist wie die Planeten, du dieselbe Luft atmest wie die Vögel, die über dir in den Baumwipfeln singen, und dein Herz Blut durch deine Adern pumpt, nur wegen der Liebe und Sorge anderer - ist der Moment, in dem du realisierst, dass du nicht so kaputt bist wie du dachtest. . . Du bist voll von der Welt. Wir alle sind es.
Die Kälte kriecht langsam in meine Fingerspitzen und ich nehme wieder ein schnelleres Tempo auf. Budumm, budumm. Ich blicke auf die Weite der Fläche vor mir. In der Ferne ein Gebäude und hinter mir sich auftürmende Regenwolken. Ich seufze und gehe noch ein bisschen zügiger. Ein Tropfen fällt, erst auf meine Wange, dann kommen sie immer schneller, stürzen auf mich herab, benetzen meine Haare, meine Schultern. Bududumm budumm. Ich schließe kurz die Augen, meine Zähne klappern. Mit verschleiertem Blick sehe ich hoch auf den Duschkopf, der mich unerbittlich durchnässt. Ich spüre wie heißes Wasser versucht mich aufzuwärmen, doch ich nehme die Hitze nur am Rande wahr. Die Pflegerin beginnt sanft mich zu waschen, hebt meine Arme, wenn ich zu schwach bin und redet gutmütig mit mir. Ich störe mich am unangenehmen Geruch der Seife. Ich hasse Ananas, doch ich beschwere mich nicht. Sie trocknet mich ab, setzt mich vor den Spiegel und föhnt mir mit geübten Handgriffen die Haare, wie sie es schon dutzende Male zuvor getan hat. Endlos müde Augen blicken mich an. Ich bewundere die tiefen Schatten, die unter ihnen klaffen. Das freundliche Geplapper der Pflegerin prallt an mir ab.
Ich hebe versuchsweise meine Hand. Zögernd macht das Spiegelbild es mir nach.
Ich blicke mir prüfend in die Augen, ein seltsamer Schimmer liegt in ihnen.
Etwas mutiger bewege ich nun den gesamten Arm. Die Pflegerin stockt in ihrem Redeschwall, sieht mich erstaunt an und schaltet den Föhn aus.
Ich fahre mir durch die Haare. Sie sind so lang geworden.
Ein Ausdruck, den ich schwer deuten kann, liegt in meinem Gesicht.
Gott, meine Arme sind dünn geworden, die Wangen hohl.
Ich hebe den Kopf und sehe aus dem Fenster.
Budumm – da ist es.
Das Gefühl.
Ich lächle schwach.
Scheiß drauf - „Heute. . .“, meine Stimme ist schwach, zögerlich zuerst, „Heute will ich leben“.
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