Horror Vacui
Die Welt um dich ist weiß. Sie ist so weiß, dass der Begriff „Weiß“ sie nicht zur Gänze beschreiben kann. Sie ist schlichtweg leer, steril, so als hätte man sie von allem bereinigt, das weltlich ist.
Als wäre die vollkommene Abwesenheit von jeder Materie das Natürlichste auf der Welt für dich, rufst du ein naives „Hallo?“ in die lichte Leere vor dir. Eine sanfte, kindliche Stimme ertönt: „Oh, Hallo!“ Diese Stimme ähnelt deiner eigenen, aber auch der deiner Mutter oder deines Bruders. Du fragst die Stimme wo du bist, nach wie vor unbeeindruckt von der Welt blank wie Kopierpapier. „Du bist im Abend“, antwortet die Stimme ein wenig erregter. Nach einer kurzen Pause rufst du erneut in das Nichts und fragst, wer denn mit dir spricht. Von scheinbar kindlicher Aufregung erfüllt entgegnet das Nichts: „Ich bin der Morgen!“
Binnen eines Wimpernschlags erscheint ein ebenhölzerner Beistelltisch vor dir. Die runde und schwere Tischplatte, dessen Seite geschwungene Ornamente zieren, wird von einem nicht weniger kunstvoll geschmücktem Sockel getragen, welcher sich in 4 schneckenförmige Füße aufspaltet. Auf dem Tisch befindet sich ein großes, quadratisches Stück Ton. Du streichst mit deiner Hand über die große Tischplatte und spürst die vielen Kerben, welche die Zeit in ihr hinterlassen hat. Du legst deine Handfläche auf den Ton. Er ist nass und kalt. Als du deine Hand wieder von ihm entfernst, bleiben einige Überreste auf deiner Hand kleben.
Du gehst einen Schritt zurück. Dein Blick streift sanft über die Ornamente des Tisches, während du den Ton fragst, wieso du hier bist. „Du bist hier um zu formen, um zu gestalten“, erklingt die Stimme des Tons. Du betrachtest diesen porösen, glitschigen Würfel. Du kannst nicht anders als an geschmacklosen Haferbrei zu denken. Der Ton stellt für dich das Gegenteil der Welt dar, die Schönheit und der Glanz des Weiß beschmutzt durch die Anwesenheit des Würfels.
Du möchtest den Ton nicht formen. Und selbst wenn du ihn bearbeiten wollen würdest, wäre er jemals so rein wie die Welt um dich herum? Wäre er denn schön genug? Du glaubst nicht daran. Du möchtest dich vom Ton abwenden, du drehst dich weg von ihm, doch… es geht nicht. Der Ton bleibt immer vor dir. Dein Blick wanderte auf den Boden. „Du warst nicht der Erste“, sprach der Ton zärtlich, „und du wirst auch nicht der Letzte sein. Jeder der bei mir war formte mich, jedoch keiner wusste wie. Und trotzdem taten es alle.“
Einige Sekunden lang wägst du deine Optionen ab und fixierst weiterhin den Tonwürfel. Mit einem tiefen Atemzug besiegelst du deine Entscheidung, während du wieder an den Beistelltisch herantrittst. Zuerst sachte, dann immer elanvoller gestaltest du „das Morgen“, sodass du bald von deiner Nase bis zu deinen Zehenspitzen voll bist mit Tonspritzern. Du hörst nicht auf, wie könntest du auch? Solange du bewegst, verdrehst, zerdrückst, zerschneidest, ist es recht.
Denn der Angst zu trotzen, zu erschaffen heißt zu leben.
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