Ich brauche Hilfe
Manchmal wünsche ich mir, sie wäre tot. Kein rauschendes Blut mehr in ihr, kein schlagendes Herz oder atmende Lungen, sondern nur erstarrte, leere, entsetzt aufgerissene Augen, die offen stehen ohne die Welt um sich herum noch erfassen zu können. Das wünsche ich mir natürlich nur ganz selten, wenn ich vollkommen alleine bin und alle anderen möglichen Gedanken mir langweilig erscheinen. Doch genau dann, in solchen Augenblicken, kriecht dieser verrottete, abscheuliche Gedanke langsam seinen staubigen Weg in mein Gehirn und nagt sich dort fest wie ein Parasit, der plötzlich wieder da, doch nie ganz weg gewesen ist. Er frisst sich klein und unscheinbar durch die Mauer an moralischen Blockaden und gräbt sich zu dem Areal des Möglichen, Machbaren vor. Und eines Tages wird er bleiben, der Gedanke, und wird mich so lange festhalten, bis ich es tue.
Ja, ich denke ich weiß, dass ich es eines Tages tun werde. Natürlich nicht heute, doch vielleicht übermorgen. Ich kann mir nicht helfen, aber das imaginäre Bild ihrer Leiche fesselt mich mit unzerreißbaren Seilen. Mich verlangt es, in ihr Schicksal einzugreifen, die dramatischste Wende in ihrem abgekürzten Leben zu sein.
Die Augenblicke, in denen ich an ihre Leiche denke, ziehen sich mittlerweile immer mehr in die Länge, sodass sich mir gelegentlich schon die Frage nach dem „Wie?“ aufdrängt. Ich meine, die Tatsache, dass mich dieser Gedanke schon so lange plagt, schreit doch: „Handlungsbedarf!“
Und was ist denn so verwerflich daran, ein bisschen Sensenmann zu spielen? Jeden Tag sterben hunderttausende Menschen und von denen sterben doch sicher nicht alle an Krankheit und Alter. Es passieren unabsichtliche und absichtliche Unfälle. Nein, ihr Tod wäre nicht wichtig. Ich traue mich zu denken, dass ihr Leben dadurch sogar interessanter werden würde, sich absetzen würde von all den Großeltern, die an Herz- und Nierenversagen sterben. Es reizt mich so sehr, ihrem Leben Bedeutung zu verleihen, dass ich fast grinsen muss, wenn ihr lebloser Körper wie ein bekannter Freund vor meinem inneren Auge erscheint. Eins ist mir klar; ich möchte lieber ihre junge, hübsche Leiche als ihren alten Leichnam sehen.
Es gibt Augenblicke, da lasse ich den Gedanken zu, widme mich ihm und von Zeit zu Zeit erlebe ich Momente, in denen ich so kurz davor bin, es zu tun, dass ich fast enttäuscht bin, es noch nicht getan zu haben. Vielleicht erlange ich eines Tages den Mut dazu.
In manchen Momenten, in denen ich sie ansehe, kann ich ihre lebendigen Augen nicht ertragen, dann nervt es mich, dass ihr Hirn in ihrem Kopf pulsiert und dass ihre Muskeln ihr erlauben, sich fortzubewegen.
Manchmal wünsche ich mir, sie wäre tot - und dann geht der Augenblick wieder vorbei.
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