Ich habe doch nur einen Wunsch
Wie jeden Abend liegt Emil in seinem Bett. Er nimmt den rosa Stift, öffnet sein Tagebuch und schreibt: „Liebes Tagebuch, auch heute war wieder ein schrecklicher Tag!“ Eine Träne verlässt sein Auge, läuft über seine Wange und tropft direkt ins Buch. Wieso versteht mich denn niemand? Hätte ich einen Wunsch frei, dann wäre es keine Guccitasche oder ein neues IPhone. Ich wünsche mir lediglich einen Freund, der mich versteht. Jemanden der mich nicht auslacht, weil ich anders bin als die anderen. Jemanden, der mich nicht an meinen langen Haaren zieht und schreit: „Geh heim und spiel mit deinen Barbies!“. Ständig verpasse ich den Unterricht, weil ich mich in der Pause nicht aufs Klo traue. Entweder kreischen die Mädchen: „Ihhhh, ein Junge“ oder „du gehörst hier nicht her“. Zu den Jungs trau ich mich schon lange nicht mehr. Entweder verpassen sie mir ein blaues Auge oder sie sperren mich wie letztens auf der Toilette ein. Ich verpasste den ganzen Unterricht an diesem Tag, weil niemand nach mir suchte. Erst als die Schule schon aus war und der Hausmeister seine letzte Runde drehte, hörte dieser mein vergebliches Schreien und Klopfen. Bei dem Gedanken daran kullern Emil jetzt schon wieder die Tränen herunter. Wie schön wäre es, wenn ich auf der Sportwoche gemeinsam mit jemandem im Zimmer schlafen könnte. Das Einzelzimmer ist so groß, da hätte locker noch jemand Platz. Doch wer will schon mit jemandem zusammen sein, der zwar aussieht wie ein Junge, lieber aber ein Mädchen wäre? Alle schauen immer nur auf die Lidschattenpalette im Bad und die hellrosarote Bettwäsche. Sind das wirklich Dinge, die einen Menschen ausmachen? Niemand kennt Emils Lachen, denn er selbst weiß gar nicht mehr, wann er das letzte Mal gelacht hat. Auch seinen Humor und seine offene Art hat er in den letzten zwei Jahren gelernt, unter den weiten Hoodies zu verbergen. Es ist schon spät. Emil schlüpft unter seine Bettdecke, schließt die Augen und denkt nach, wie er sich seine Zukunft erhofft. Ich würde mir wünschen, dass niemand mehr für sein Aussehen gehänselt wird, dass jeder irgendwann so sein kann wie er will. Wenn die Leute jedoch so weitermachen wie bisher und ihren Kindern nicht zeigen, dass es ok ist, anders zu sein, dann werde ich nie so sein können, wie ich will. Ich werde nie auf die Toilette gehen können, ohne mich zu schämen oder beschimpft zu werden. Ich werde nie in ein Kleidergeschäft gehen können, ohne darauf hingewiesen zu werden, dass ich in der falschen Abteilung bin. Ich werde nie der Welt zeigen können, wer ich wirklich bin. Doch allein kann ich die Welt nicht verändern. Ich habe schon jetzt fast keine Kraft mehr. Ich muss mir ja schließlich jeden Tag aufs Neue die Hänslerein und Quälerein meiner Schulkollegen gefallen lassen. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als jemanden, der den Leuten erklärt, was es heißt, anders zu sein, und dass es nicht darauf ankommt, wie man aussieht, sondern auf die inneren Werte. Mit diesen Gedanken schläft er ein.
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