Ich habe es satt
„Hast du schon genug?“, fragte Christa. Ihr Blick war bittend und sagte, noch einen Bissen, für mich.
Ich starrte auf mein Essen und nickte. Genug war das falsche Wort. Mir wurde schon übel, wenn ich nur an meinen vollen Teller dachte.
Lukas schmatzte laut: „Es bringt nichts, du musst mehr essen. Ich verstehe ja, dass es schwer für dich ist, aber da musst du durch. Du brauchst einfach mehr Willenskraft.“
Ich schwieg. Hatten andere Väter auch so wenig Ahnung oder war es nur, weil er mein Adoptivvater war? Er verstand ganz sicher nicht, was für eine Überwindung es brauchte, eine Gabel zum Mund zu führen.
„Kann ich aufstehen?“, fragte ich.
„Bitte, schließ dich nicht wieder den ganzen Nachmittag in dein Zimmer ein“, bat Christa.
Ich schüttelte nur den Kopf.
In meinem Zimmer ließ ich mich aufs Bett fallen. In meinen Gedanken hörte ich Freunde, Verwandte und Ärzte: „Iss einfach, es ist doch nicht schwer“, „Magst du das nicht?“ oder „Hast du keinen Hunger?“ und meine immer gleiche Antwort: „Ich hab schon genug, nein, danke, das war genug für mich“.
Früher gab es noch Bewunderung: „Wow, du bist so dünn, ich hätte auch gern die Disziplin“, aber jetzt sahen mich alle nur noch mitleidig an. „Sie hat die Krankheit“, flüsterten sie, „sprich mit ihr nicht über Essen, sie hat psychische Probleme“.
Tränen liefen mir übers Gesicht. Am liebsten hätte ich ihnen allen die Wahrheit ins Gesicht geschrien, dass es einfach nicht ging, dass ich alle beneidete, die Eis oder Pudding essen konnten, was mein Gehirn aber niemals zulassen würde.
Aber die Wahrheit brachte nichts, auch wenn man sie ihnen um die Ohren schlagen würde. Alle würden nur den Kopf schütteln, sagen: „Ja, die Arme, hoffentlich bringt sie ihre psychischen Probleme bald in den Griff“ und weiter idiotische Ratschläge geben, wie ich ganz einfach wieder essen konnte.
Wer war denn Schuld, wer redete denn seit meiner Ankunft nur über Gewicht und Kalorien? Wer hatte mich denn unterstützt, als ich noch stolz weiter als alle anderen ging?
Ich hatte noch nie so genug von Essen gehabt, wie von den bittenden, altklugen, mitleidigen oder hämischen Blicken, die ich jetzt bekam. Dieses Leben außerhalb des Waisenhauses war zu einem Kreis aus immer größeren Problemen geworden, die ich nicht ertragen konnte. Ich hatte genug von all dem hier, genug davon genug zu haben.
Ich wischte mir die Tränen ab und griff nach den Flyern und Prospekten auf dem Nachttisch. Der Arzt hatte sie mir letztes Mal mitgegeben. Christa war ganz erschrocken, „Ist es schon so schlimm?“, hatte sie gefragt. Es waren verschiedene Kliniken, auf Essstörungen spezialisiert. Ich wäre vielleicht für Monate weg von der Schule und Zuhause. Es tat mir Leid für Christa und Lukas, die mich liebend aufgenommen hatten und nichts für ihre Ahnungslosigkeit konnten. Aber lieber flüchtete ich aus diesem Leben und suchte Hilfe, als hier zugrunde zu gehen.
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