Ich habe verloren
Ich habe etwas verloren, zwei Dinge. Meinen Kopf und meinen Verstand.
Es war dunkel, man konnte kaum etwas sehen und doch wusste ich, dass sie hinter mir stand. Sie weinte. „Bitte, verlass mich nicht! Nicht schon wieder!“ Ich drehte mich um, sagte: „Ich verlass dich nicht.“ Sie gluckste fröhlich und umarmte mich, fest. Sie hauchte mir zu: „Danke, Stephen.“ Ich stieß sie von mir. Mich hatte die Wut gepackt, meine Wangen glühten. Ich schrie: „Ich bin nicht Stephen! Ich bin nicht mein Bruder!“ Mir rann eine Träne über die Wange. „Was redest du da Stephen. Du bist genau vor mir. . .“ „Oh Gott, bitte. . .“, ich schluchzte. „Stephen ist tot! Ich bin nicht dein Sohn, ich bin deine Tochter!“, die letzten Worte schrie ich. Meine Mutter sah mich aus glasigen Augen an, machte ein fragendes Gesicht. Sie kam langsam auf mich zu. „Du bist nicht Stephen?“ Sie stand dicht vor mir. Ich nickte. Sie sagte: „Ich brauche nur meinen Stephen.“ Sie lächelte mich unschuldig an. „Dich brauche ich nicht.“ Sie stieß mich runter. Alles schien plötzlich wie in Zeitlupe. Meine Haare wehten mir langsam ins Gesicht. Ich konnte den Nachthimmel sehen. Die Sterne funkelten, als ob sie sagen wollten, hier bin ich, mich gibt es. Ich bin wie eines der Sterne, dachte ich mir. Wie schön sind nur die Sterne. Ich spürte einen Windzug und dann gab es nichts mehr. Ich war im „Nichts“.
Es dauerte lange, bis ich etwas wahrnehmen konnte. Ich roch etwas. Desinfektionsmittel. Als nächstes spürte ich das Gewicht meines Körpers. Ich lag irgendwo, wahrscheinlich auf einem Bett. Ich öffnete meine Augen, um zu sehen, wo ich war, aber ich sah nichts. Hatte ich meine Augen noch zu? Nein, ich hatte sie offen. „Nein“, versuchte ich zu sagen, aber ich hörte meine Stimme nicht. „Nein nein nein nein!“, schrie ich verzweifelt. Ich hörte meine Stimme noch immer nicht. Ich spürte Tränen aus meinen funktionsunfähigen Augen kullern. Ich wollte meine Hände zu Fäusten ballen, aber ich hatte nicht genug Kraft. Da legte sich eine vertraute Hand auf meine. Ich erkannte sie wieder. Die Hand meiner Mutter. Ich drückte sie fest, sie drückte zurück. Ich atmete erleichtert auf. Ich war nicht alleine. Doch im nächsten Moment entzog sich ihre Hand meiner. Ich versuchte zu schreien: „Nein! Geh nicht weg! Lass mich nicht alleine!“ Ich spürte wieder ihre warme Hand auf meiner kalten. Sie streichelte sie sanft. Ich entspannte mich, bis ich bemerkte, dass sie immer die selben Bewegungen machte. Sie schrieb Buchstaben auf meinen Handrücken. „Bist du Stephen“. Ich bekam Angst. Wenn ich jetzt nein sagen würde, würde meine Mutter mich sofort verlassen. Ich wollte nicht alleine sein, ich wollte gebraucht werden. Wer außer ihr würde mich brauchen? Sie war die Einzige. Ich nickte heftig, versuchte immer wieder „Ja“ zu sagen. Ihre Hand drückte meine fest. Sie schüttelte sie fröhlich. Es tat höllisch weh, aber ich lächelte. Ich war glücklich. Wie es aussah, würde sie mich nicht so schnell wegschmeißen.
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