Ich packe meinen Koffer und rein kommt. . .
Laut Definition ist ein Augenblick ein kurzer Zeitraum, für manche Menschen stellt er die Zeitspanne zwischen zwei Wimpernschlägen dar. Ich bin Profi-Augenblick-Erfasserin. Wenn ich einen Augenblick erfasse, der es wert ist, in meine Sammlung aufgenommen zu werden, dann nehme ich in einem Sekundenbruchteil die Welt um mich herum und meine Innenwelt in mir auf und speichere sie in meinem Kopf.
Meine Schulfreundin Alice vergleicht ihren Kopf immer mit einem vollen Koffer, in den die Lehrer noch mehr Zeug stopfen wollen, obwohl er wegen des Inhalts schon nicht mehr zugeht. Wenn ihr Kopf nach der sechsten Schulstunde der volle Reisekoffer einer Diva ist, dann ist mein Kopf der Koffer von Mary Poppins. Da hat alles Platz. Aber ich passe auf, dass ja nichts unnötiges reinkommt, das dort für immer vergammeln wird. Wie alt ist Helene Fischer? Was schwimmt, was geht unter, die Zitrone oder die Limette? Das ist in meinem Leben egal. Ich arbeite sogar aktiv daran, ganz verschimmelte Essensreste vom Boden meines Mary-Poppins-Koffers zu kratzen, wie z. B. dass man sich nicht länger als 4 Sekunden die Nase zuhalten und dabei Hmmm sagen kann.
Was ich tatsächlich in meinen Koffer packe, sind Momente, die mir wichtig sind. Die Ehrenplätze sind für meinen kleinen Bruder reserviert, wie ich ihn nach der Geburt im Arm gehalten habe. Dann kommen Erinnerungen an das weihnachtliche Keksebacken mit meiner verstorbenen Oma, der Italienurlaub mit Alice's Familie und jede Reitstunde, die ich bisher hatte. Es gibt aber auch ganz banale Momente, wie als ich heute aufgewacht bin und noch mindestens eine Stunde wach im Bett lag. Ich erinnere mich an den Geruch der warmen Bettdecke und die herbstliche Luft, die durch das Fenster wehte, an meinen grauen Kater, der zu meinen Füßen lag und schlummerte und das kuschelige Gefühl von Geborgenheit. In der Stunde in der ich wachgelegen bin, habe ich gemacht, was ich sonst eher tue, wenn ich auf die U-Bahn warte oder Lehrer mir etwas erzählen, dessen vergammelte Überreste ich nicht auch noch aus meinem Koffer kratzen will. Dann betrete ich die imaginäre Bibliothek in meinem Kopf. Dort ist alles nach Datum und Wichtigkeit sortiert.
Ich muss da nur ein Buch aufschlagen und mache eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit. Dann erlebe ich vielleicht den Moment wieder, als ich meinen kleinen neugeborenen Bruder im Arm hielt, ich atme seinen Duft erneut ein, fühle seine Haut erneut unter meinen zarten Strechelbewegungen und sehe in die strahlenden Augen meiner Eltern. Oder ich sitze in einem Cafe und erlebe erneut das Geschmackserlebnis, das ich damals bei einem leckeren Stück Sachertorte genossen habe. Ich liebe meinen Koffer. Alice meint, ich müsste mein Talent nutzen und reich, Detektivin oder Superheldin werden, aber mein Plan ist, zu reisen und dabei so viele besondere Augenblicke in meinen Koffer zu packen wie nur möglich. Ich will wissen, wie es in Japan riecht, wie sich Hühner-Streicheln anfühlt und wie Französisches Essen schmeckt.
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