Ich vermisse mich
Es hat lange gedauert, bis mir selbst aufgefallen ist, wie elend es mir geht.
Ah, Stopp! Wir können nicht jetzt schon anfangen zu lügen, Marija. Aufgefallen ist es ihr schon vor sehr langer Zeit. Sie wollte es sich nur nicht eingestehen. Davor hatte sie es zwar ständig zu hören bekommen von ihrer Familie und Freunden, wie sich ihre Aussehen verändert hätte und, dass sie nicht mehr so strahle wie früher. Das schiebt sie immer wieder auf die Müdigkeit von der Arbeit und dem Lernen, welche sie jeden Tag begleitet. Es ist die Arbeit und auch das Lernen, welche ihre Augenlieder tagsüber immer wieder schließen lassen, aber genauso spielt das nicht Einschlafen können oder das ständige wach werden in der Nacht eine relevante Rolle. Diese Nächte begleiten sie schon seit Jahren. Bis vor kurzem hatte sie aber diese Zeit recht nützlich verbracht, und zwar mit mir, der Dichterin. Eigentlich waren wir ein und derselbe Mensch. Ich habe grandios ausgewählte Wörter zusammenspielen lasse, die Zeilen mit dem teuersten Schmuck und den elegantesten Kostümen geschmückt und ein wahres Festspiel entstehen lasse. Es war Magie, einfach zauberhaft. Ich vermisse es sehr, ich vermisse mich. Im letzten Jahr ist vieles passiert, sie hat sich so sehr verändert oder, wie sie es nennt, entwickelt. Aus dem Nichts entstand ein Zögern beim Schreiben, ich hatte die Worte, aber sie schrieb sie nicht auf. Ich wollte glauben, dass es nur eine Phase ist. Doch Tage, Wochen, Monate vergingen und sie hörte komplett auf. Sie schrieb gar nicht mehr. Irgendwo zwischen damals und jetzt haben wir uns getrennt. Sie denkt, dass ich verschwunden wäre und sie diesen Teil für immer verloren hätte, aber ich bin noch da, kreiere tanzend neue Welten und warte auf sie. Es scheint mir aber, dass das Warten bald ein Ende nehmen wird, sie hat immerhin den ersten Satz geschrieben, oder?
Gut, dann fangen wir von vorne an. Es hat lange gedauert, bis ich mir selbst eingestanden hatte, wie elend ich bin. Nach einem erschöpfenden Tag stand ich da, vor dem Spiegel, und schaute mich an. So lange habe ich mich aber nicht einfach nur angeschaut oder gar bewundert. Es ist mir nicht an meiner Lustlosigkeit oder meiner verschwundenen Freude aufgefallen. Auch nicht an der Gewichtszunahme. Sogar nicht an der unreinen Haut, den zerbrechlichen Haaren oder meiner Körperhaltung. Es waren meine Augen. Meine wunderschönen. Hier waren es aber auch nicht die tiefen, dunkeln Augenringe oder Falten. Es war das Auge selbst, sein inneres, was nach meiner Aufmerksamkeit schon so lange suchte. Ich habe mich nicht wiedererkannt. In diesem Augenblick, in diesem Auge sah ich nichts lebendiges, glückliches. Ich fühlte mich wie eine Puppe, mit der gespielt wird. Irgendwas muss ich ändern. Also nahm ich meinen Lieblingsstift und fing an zu schreiben.
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