08/15-Momentaufnahme
Erster Schultag nach den Sommerferien. Auf einer Bank neben der Bushaltestation sitzend, warte ich auf den Bus, der mich in die Schule bringen sollte. Dieser ist wieder einmal zu spät. Um mir die Zeit zu vertreiben, möchte ich auf meinem Handy nachschauen, was meine Freunde in den Sommerferien so getrieben haben, doch der Akku ist leer. Ärgerlicherweise habe ich vergessen, mein Handy über Nacht aufzuladen. Was nun?
Ich schaue mich um und stelle überrascht fest, dass um diese frühe Uhrzeit schon recht reger Verkehr herrscht und schon jetzt Personen hektisch zur Arbeit eilen. Das ist mir bisher noch nie so aufgefallen. Neben mir bemerke ich einen adretten Herrn, in einem grauen Anzug und roter Krawatte. Die Hand fest um den Griff eines schwarzen Aktenkoffers gelegt, telefoniert er offensichtlich mit einem verärgerten Geschäftspartner. Der Mann im grauen Anzug scheint in einer Bredouille zu stecken, denn plötzlich beginnt er unsicher zu stottern und legt schließlich verärgert mit den Worten „Genug! Es reicht!“ auf. „Ich hätte auch genug, wenn mich jemand schon so Früh anrufen würde, um sich bei mir zu beklagen“, denke ich mir. Da ich mich von der schlechten Laune des Mannes nicht beeinflussen lassen möchte, beschließe ich mich abzuwenden.
Dort erblicke ich eine Müllabfuhr, die gerade anhält, um einige Mülltonnen zu entleeren. Eine stattliche Frau mit breiten Schultern und Tattoos, die sich über die Arme ziehen, bringt die Tonnen zu dem Wagen, welcher diese entleert. Während die Frau schwungvoll zwei Behälter auf einmal zu dem Fahrzeug bringt, bemerke ich einige Leute, die angewidert und teilweise sogar bedauernd das Geschehen beobachten. Dies ist für mich unverständlich, denn die Frau scheint Spaß an ihrem Beruf zu haben und ich könnte mir vorstellen, dass das Einzige, wovon sie genug hat, die Blicke der Passanten sind.
Als ich dem weiterfahrenden Müllwagen hinterherschaue, werde ich plötzlich auf Englisch mit einem starken Akzent angesprochen“Newspaper?“. Ein Mann mit einer zerrissenen Hose, die offenbar schon öfter, und zwar gekonnt, geflickt wurde, und einer dünkleren Hautfarbe steht vor mir. In der einen Hand eine Mütze mit ein paar Münzen darin, in der anderen einige dieser Tageszeitungen, die man gratis in U-Bahn Stationen entnehmen kann, welche er anscheinend versucht, mir anzudrehen. Mein erster Gedanke ist sofort: „Ein Flüchtling“. Nur aus Interesse werfe ich einen Blick auf das Titelblatt der Zeitung. Die Überschrift lautet: „Protest vor dem Innenministerium, auf Grund der Flüchtlinge“. Auf dem Titelbild sind Menschen, die Schilder mit Aufschriften wie „Wir haben genug von Flüchtlingen“, „Es reicht“, „Es gibt nicht genug Arbeit für so viele Menschen“, hochhalten. Erschrocken wende ich meinen Blick ab und mache mit einer Handbewegung deutlich, dass ich keine Zeitung möchte. Der Mann versteht und geht weiter zu dem Herrn in dem grauen Anzug.
Da endlich kommt der Bus, der fast zehn Minuten Verspätung hat, und ich steige ein.
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