100-Meter-Sprint
Bei mir zu Hause herrscht ohrenbetäubende Stille. Ich, Mama, Papa und mein Bruder. Obwohl, der taucht fast nie auf, und wenn doch, dann braucht er etwas und dann schreit er und schreit. Papa schreit zurück und sagt, er könne nichts dafür, dass er sein scheiß Leben nicht auf die Reihe bringe und das ich gefälligst essen solle, weil sonst das Essen kalt werde. Aber wie soll ich irgendetwas hinunterbekommen, wenn mir dieser ständig schreiende Mund gegenübersitzt. Wie soll ich ruhig bleiben, wenn ich weiß, dass er nur darauf wartet, dass ich die Gabel hinlege, damit er weiterschreien kann.
Ich soll auf ihn hören und essen und noch so viel anderes, das ich aber nicht mehr höre, weil ich die Ohren voller Wörter habe. Mama sagt er solle sich beruhigen, ein bisschen leiser werden und dann bleibt er kurz still, bis es wieder losgeht und er auch Mama anschreit. Und die Stille wird noch größer.
Mama habe ich 1000 Herzen auf ihr Kochbuch gemalt, besonders viele auf die Himbeertorte. Mama hat nie irgendwo Herzchen hingemalt. Nicht einmal auf den Zeichenblock, den ich ihr zu ihrem Geburtstag geschenkt habe. Wegen meinem Vater ist Mama immer traurig und sie tut mir leid, wenn sie in die Küche geht, um uns Essen zu machen, dafür, dass es am Ende in seinem schreienden Mund ist.
Er schreit schon wieder. Ich soll das Geschirr wegräumen. Ich tue, was er sagt. Immer wenn er schreit, steht die Zeit still. Wie wenn ich in der Schule sitze und die Lehrerin wieder nur von sich redet. Obwohl die eigentlich lieb ist. Jung und hübsch, die Art hübsch, bei der Lastwagenfahrer stehen bleiben und hupen.
Die Zeit steht zwar, aber mein Herz ist schnell. Vor allem, wenn er besonders wütend wird. So, als wäre ich gerade einen 100-Meter-Sprint gelaufen. Ich passe mich dem Tempo immer an. Sonst wäre ich schon längst nicht mehr ruhig. Wenn er schon wieder schreit, pocht mein Herz wie verrückt, im Tempo meiner Schritte in die Küche, so wie jetzt.
Es wird plötzlich ruhig. Ich stelle das Geschirr in der Küche ab, wasche es und trockne es ab. Und da fällt er. Langsam rutschte mir der Teller beim Abtrocknen durch die Hände. Er fiel und als er am Boden ankommt, zerspringt er in 1000 kleine Teilchen. Dumm von mir. Ich schaue nach unten. Mamas Kochbuch liegt dort. Ich schaue auf. Mein Vater steht vor mir. Er schreit. Langweilige Lehrerin. Er hebt seine Hand. Mit rotem Gesicht spannt er sie und … 100-Meter-Sprint. Mein Herz rast.
Ich hasse diese unregelmäßigen Takte. Ich wünschte, einmal würde alles in einem Tempo bleiben und ich müsste mich nicht anpassen. Am besten ohne 100-Meter-Sprint.
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