1460 Tage
Es ist jetzt genau 1460 Tage her. 1460 Tage, 46 Monate, oder ganz einfach 4 ganze Jahre. 4 verdammte Jahre, in denen ich in dieser kahlen, grauen Zelle festsitze. Und heute soll es endlich enden. Heute werden der muskulöse Harry und sein Wachkollege mich holen kommen und mich entlassen. Ich zeichne gerade den letzten 1460. Strich an der schon etwas abgebröckelten Wand, als mich erneut eine Welle der Nervosität und Freude überkommt. Meine Familie wird heute kommen. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, waren meine Kleinen gerade mal so alt, dass sie ihre kleinen Äuglein öffnen konnten. Die Ärzte hatten damals alle gemeint, dass eines unserer Zwillinge „anders“ sein würde. Anders, im Sinne von geistig nicht ganz gesund, erklärten sie uns. Das war der Moment, in dem ich innerlich zusammengebrochen bin. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte doch einfach nur eine perfekte Familie, eine die sich gut nach außen hin präsentieren lässt. Als am nächsten Morgen die Ärzte entsetzt das tote Baby vorfanden, stand ich schon vor der Polizeikommission und stellte mich. Die Frage, ob ich das, was ich getan hatte, jedoch bereuen würde, musste ich ehrlicherweise verneinen. Mir war klar, dass ich einige Jahre für meine Tat ins Gefängnis komme, doch das tat ich gerne, da ich wusste, wenn ich rauskomme, werden meine Marie und unser gesundes Kind mir alle noch dankbar sein, und unser Leben, als nun perfekte Familie, kann endlich beginnen.
Ich male mir aus, wie sie mich glücklich umarmen, meine Marie mir dann stolz auf die Schulter klopft und mich fragt, ob wir jetzt endlich noch mal von vorne starten.
Als Harry mich kommen holt, gehen wir einen seltsamen Umweg und steuern direkt auf das weiße Nachbarshaus zu. Komisch, ich dachte immer, das wäre die Psychiatrie.
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