66, 6 Milliliter
Eine Woche in einer kleinen abgelegenen Ferienhütte.
Der Traum, den sich Wolfgang Wollseiff nun endlich erfüllt hatte. Alle essenziellen Angelegenheiten waren per Post geregelt worden. Dass er den Vermieter erst bei der Abreise sehen würde, verunsicherte Herrn Wollseiff rein gar nicht.
Bis er bei seiner Ankunft den großen Metallkasten an der Wand erblickte, mit einem Loch, das zu klein war, um durchsehen zu können und einer plumpen Anweisung auf einem Zettel daneben: „Täglich genau 66, 6 ml Wasser einfüllen!“
Am nächsten Morgen, beim Befüllen des bereitstehenden Messbechers, begannen erste Zweifel in ihm aufzukeimen. Warum goss er Wasser in diesen Kasten? Löste diese Tat einen bestimmten Mechanismus aus?
Es war die dritte Nacht, in der Wollseiff schweißgebadet aufwachte, da er die Aufgabe vergessen hatte. Er hatte noch fünf Minuten Zeit, bevor die leuchtend grünen Zahlen auf seinem Wecker 0 Uhr anzeigten. Vergeblich tastete er nach seinen Hausschuhen und eilte dann barfuß zum Messbecher. Nervös befüllte er ihn und wollte ihn soeben in das Loch kippen, als ein Schweißtropfen von seinen Händen in den Becher rann. Verdammt, waren das jetzt 66, 65 Milliliter? Kurz rang er mit sich selbst und ging dann doch zum Waschbecken, um den Behälter auszuleeren, ihn neu zu befüllen (diesmal ohne Schweiß) und das Wasser in den Kasten zu befördern.
Von da an begann er, die Tage bis zu seiner Abreise zu zählen. Bis er endlich die Schlüssel abgeben und dieses Haus verlassen konnte. Nur noch 4 Tage…
Nicht nur beim Befüllen des Messbechers wurde er nervös, sondern auch, wenn er nur an dem Kasten vorbeiging. Er geriet an seine Grenzen. Nahrungs- und Schlafmangel reizten seine Nerven bis aufs Äußerste.
Nach und nach nahmen wilde Theorien in seinem Kopf Form an.
Was verbarg sich in dieser Wand?
Es war ein krankes Gedankenspiel, das ihm nachts den Schlaf raubte und und ihn morgens dennoch aus dem Bett jagte, um das Kästchen mit Wasser zu befüllen.
Was, wenn er hier nach und nach „etwas“ ertränkte?
Tag 7.
Endlich weg von hier.
Herr Wollseiff sprang aus dem Bett, die Schlüssel in der Hand, bereit, sie auf den Tisch zu knallen und zu verschwinden. Der Tag verging. Kein Vermieter in Sicht. Wolfgang Wollseiff wollte ins Auto steigen und nachhause fahren. Aber ein winziger Gedanke hielt ihn letztendlich zurück.
Was, wenn in dem Kasten etwas lebte, das er mit den 66, 6 Millilitern am Leben hielt? Was, wenn es starb, sobald er kein Wasser eingoss?
Minutenlang stand er da, umklammerte den Griff seines gepackten Koffers. Schließlich siegte die Angst. Mit einem Seufzen füllte er Wasser in den Metallkasten.
Definitiv mehr als eine Woche in einer kleinen abgelegenen Ferienhütte.
Ein Albtraum, der für Wolfgang Wollseiff nie enden wird.
Von außen kann man sogar betrachten, wie jeden Tag 66, 6 Milliliter Wasser aus einer Öffnung in der Wand in ein Fass tropfen, von dort aus in ein Rohr und von da aus zurück in die Wasserleitung, von der jeden Tag 66, 6 Milliliter Wasser entnommen werden.
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