67 Cent
Eine Fahrkarte. . . stimmt, man braucht doch hier eine Fahrkarte oder nicht? Der Mann sah sich in der Ubahn-Station um. Tatsächlich, dort, hinter einer Säule war ein Fahrkartenautomat. Er steuerte darauf zu. Sein zielstrebiges Gehen verlieh ihm einen normgerechten Anschein von Eile und Routiniertheit, wenngleich er sonst nicht ganz so gewöhnlich aussah. Nun, Gesicht und Figur schienen durchaus durchschnittlich, doch sein pastellfarbener violetter Anzug mit dem hellblauen Hemd erweckten einen etwas ungewöhnlichen Eindruck. Und nein, seine grüne Fliege machte es definitiv nicht besser. “Willy Wonka auf der momentanen Suche nach dem Fahrkartenautomaten, aber auf der ewigen Suche nach Modegeschmack”. Wie auch immer, unser Freund war nun an seinem Ziel angekommen, wählte die für ihn passende Fahrkarte aus und musste jetzt nur mehr den am Bildschirm angezeigten Preis von 2, 20€ bezahlen. Doch das war ein Problem, denn unser Genie besaß exakt 1, 53€. Er sah sich erneut um. Eine recht nett aussehende Frau passierte unseren Protagonisten und blickte ihn dabei kurz an, diese Gelegenheit nutzte dieser zugleich: “Entschuldigen Sie, hätte sie vielleicht 67 Cent? ” Die Dame ignorierte den Fragenden gekonnt und stapfte mit sturem Blick nach vorne davon. Sehr zuvorkommend die Dame, Gratulation an die Eltern, die sie so erzogen haben! ! Unser Willy Wonka Imitator ließ sich jedoch nicht irritieren und sprach gleich den nächsten möglichen Spender an, einen älteren Herrn, ebenfalls im Anzug (jedoch in unauffälligeren Farben). “Entschuldigung, mir fehlen noch 67 Cent für eine Fahrkarte, hätten sie die vielleicht übrig? ” Der Mann kramte einen Euro aus seiner Hosentasche. “Sie können den Rest behalten, passt schon. ” Unser Hauptakteur blickte die Münze verwirrt an und meinte: “Nein, nein, ich brauche nur 67 Cent. Haben sie keine 67 Cent? ” Der ältere Herr war sichtlich irritiert. “Ich habe es nicht genau, das ist doch genug, nehmen Sie ruhig den Euro. ”“Nein, das ist nicht genug, sondern zu viel. Ich brauche 67 Cent. ”“Dann geben Sie mir halt das Restgeld zurück, wenn es Ihnen so wichtig ist…”“Das was? ”“Das Restgeld! Das überschüssige Geld bekomme ich dann einfach zurück! ” Die Miene unseres Protagonisten spiegelte absolutes Unverständnis wider. Der ältere Mann blickte ihn einige Sekunden an. Nach kurzer Stille schüttelte er den Kopf und ging einfach weiter. Und nun steht unser pastellfarbener Idiot da, mit völlig verwirrtem Blick, denn er verstand die Welt nicht mehr. Zugegeben, er hatte sie noch nie verstanden. Er hatte noch nie verstanden warum Leute immer mehr wollten als sie brauchten, aber auch mehr gaben als nötig. Es war nie genug, nie genau das was gebraucht wurde. Wenn man genug hat, wirklich genug, so gibt es Dinge wie“Restgeld” oder“Überschuss” nicht. Und wahrscheinlich steht dieser Typ immer noch in der Ubahn-Station herum, in der Unfähigkeit zu begreifen wieso man keinen Wert darauf legt, dieser Wort zu hinterfragen.
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