99km/h
Das Tempo steht in roten Ziffern über der Tür. 99 km/h.
Draußen verschwimmen die Felder, ein grünes Rauschen, das keiner Farbe mehr gehört.
Drinnen sitze ich still, die Hände im Schoß, und frage mich, warum meine Gedanken schneller fahren als der Zug.
Ein Schlag. Mein Herz hämmert. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Manchmal denke ich, das ist das einzige Tempo, das ich wirklich messen kann: Herzschläge.
Alles andere - Minuten, Stunden, Kilometer - ist nur Erfindung, damit wir glauben, wir hätten Zeit unter Kontrolle.
Die Frau neben mir tippt auf ihrem Handy, so schnell, dass ihre Finger unscharf werden.
Ein Kind rennt durch den Gang, fällt, schreit, steht wieder auf.
Der Zug fährt weiter, als wäre nichts passiert.
Ich sehe den Schaffner auf seinem Rundgang, seine Schritte so präzise, als zähle er jeden Takt der Welt.
Er lächelt kurz, nickt mir zu, dann verschwindet er wieder zwischen den Waggons.
Vielleicht ist das sein Tempo: genau richtig, nicht zu schnell, nicht zu langsam.
Ich frage mich, ob ich jemals ein solches Tempo finden werde.
Die Landschaft draußen ändert sich kaum. Ein Baum hier, ein Feld da, und doch rast alles vorbei.
Ich erinnere mich an gestern, als ich auf dem Fahrrad den Hügel hinunterfuhr, den Wind im Gesicht, dem Himmel so nah, dass ich fast fliegen konnte.
Damals fühlte sich Tempo lebendig an, spannend, befreiend.
Hier im Zug ist es stiller, doch nicht weniger intensiv. Nur anders.
Ein paar Sitze weiter unterhält sich jemand laut, Wörter fliegen wie Vögel durch den Waggon.
Ich höre sie kaum, und trotzdem formen sie Bilder in meinem Kopf.
Jede Stimme hat ihr eigenes Tempo, ihre eigene Durchdringlichkeit.
Manchmal möchte ich mitschwimmen, manchmal will ich einfach nur still sitzen und beobachten.
Und dann fällt mir auf: Tempo ist relativ.
Für mich rennt die Zeit, draußen vergeht sie zu langsam.
Für den Zug, für die Welt, mag alles genau richtig sein.
Vielleicht ist das der Punkt: Dass wir Tempo fühlen, nicht nur sehen. Dass wir es leben, nicht nur zählen.
Ich lehne mich zurück, schließe die Augen, höre das monotone Dröhnen der Schienen.
Und plötzlich bin ich weder vorwärts noch rückwärts unterwegs.
Ich bin nur ich, zwischen 99 km/h und Herzschlägen, zwischen draußen und drinnen, zwischen dem Jetzt und dem, was gleich kommt.
Und ich? Ich weiß nicht, ob ich mich bewege.
Oder ob nur die Welt an mir vorbeifliegt.
Vielleicht spielt das keine Rolle.
Vielleicht reicht es, den Moment zu spüren, wie er rast, wie er stillsteht, wie er zugleich alles und nichts ist.
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