Ikarus
„He! Ihr Götter! Hört ihr mich? Zeus! Poseidon! HÖRT IHR MICH?“
Ein dreizehnjähriger Junge stand auf dem Dach eines kleinen Hauses in Knossos, Kretas Hauptstadt, und brüllte in den Himmel. Er stellte sich in seinem Eifer sogar auf die Zehenspitzen, doch die Götter zeigten keine Reaktion. Aber er schrie weiter seinen Unmut in das endlose Blau. „Ihr könnt mich doch nicht ignorieren! Ich beleidige euch! Hört ihr nicht? Ihr blöden Götter! Ihr arroganten jähzornigen, rachsüchtigen, egoistischen Götter! Minos sperrt uns ein und was tut ihr? Nichts! ICH HASSE EUCH!“
Zu spät wurde er sich bewusst, was er da gebrüllt hatte. Er schlug die Hand auf den Mund und schrumpfte zusammen, aus Angst vor einer Windböe, die seinem Leben ein plötzliches Ende setzen könnte. Doch es geschah nichts. „Ikarus! Ikarus, was machst du da?“
Durch eine Luke stieg ein Mann auf das Dach. Der Junge drehte sich zu ihm um. „Nichts, Vater“, sagte er kleinlaut.
Dädalus schenkte seinem Sohn ein sanftes Lächeln. „Gute Neuigkeiten, Ikarus. Wir kommen noch heute hier weg.“
„Heute?“ Ikarus‘ Gesicht leuchtete auf.
„Ja. Sie sind endlich fertig! Sieh nur“
Er bückte sich und hielt seine neueste Erfindung hoch: Flügel, echte Flügel. Er begann, sie dem begeisterten Ikarus anzuschnallen. „Flieg nicht zu hoch, Ikarus. Sonst stürzt du ab. Flieg nicht zu hoch, versprich es mir.“
„Ja, Vater. Versprochen, Vater. Du brauchst es nicht mehr zu wiederholen.“
Abwesend nickte Dädalus und fuhr fort. „Flieg nicht zu hoch, flieg nicht zu hoch…“
Es schien ihn zu beruhigen, diesen Satz wie ein Mantra zu wiederholen, also sagte Ikarus nichts mehr. Als sie beide ihre Flügel festgeschnallt hatten, stellten sie sich an den Rand des Daches. Ikarus starrte nach unten. Konnte es wirklich sein, dass er gleich fliegen würde? Dädalus legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du schaffst das, Ikarus. Ich glaube daran.“
Ikarus nickte. „Ja. Ich schaffe das.“
Und dann nahm er all seinen Mut zusammen und schwang sich vom Dach in die Lüfte. Und Ikarus flog!
Nicht lange danach sahen sie endlich das Meer unter sich sahen. Kreta lag hinter ihnen. Ikarus jubelte und flog einen Salto. „Wir sind frei, Vater!“, schrie er.
„Ja!“, lachte Dädalus.
Aber Ikarus packte der Übermut. Er flog noch einen Salto. Und dann schraubte er sich höher in die Lüfte, höher und höher. „Flieg nicht zu hoch, Ikarus!“, rief Dädalus ein letztes Mal, doch die Worte blieben ungehört. Ikarus flog der Sonne entgegen und spürte ihre Wärme auf den Wangen. Dieselbe Wärme, die das Wachs schmolz, das seine Flügel zusammenhielt. Er spürte noch das plötzliche Ziehen in der Magengegend, als er begann, zu fallen. Und Ikarus fiel. Aber als er auf der Wasseroberfläche aufprallte und sein Blut das Meerwasser rosa färbte, spürte er keinen Schmerz. Nur die guten Gefühle. Mut, Übermut, Freiheit. Und Thanatos, der Gott des Todes, gegen den er zuvor seinen Unmut nicht gerichtet hatte, brachte ihn in die Unterwelt.
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