Im Augenblick der Entscheidung
Ich meine zu glauben, dass ich auf alles gut vorbereitet bin. Ich hatte alles in meinem Leben genau geplant, jede potentzielle Entscheidung durchdacht. Immer gedacht alles unter Kontrolle zu haben. Aber ich glaube egal wie sehr man sich mit jedem Szenario, jeder Antwort, jedem Schritt, jeder emotionalen Reaktion auseinandergesetzt hat, wird man doch nie auf den Augenblick, in dem man zwischen seinem eigenen Leben und dem von tausenden Anderen entscheiden muss, vorbereitet sein. Hier stehe ich. In einer Ubahn. Umgeben von ahnungslosen Menschen, die nicht wissen, welches schlimme Ereignis sich heute noch abspielen könnte. Wenn ich bei der nächsten Station ausstiege, würde ich ohne Zweifel sterben. Aber wenn ich es nicht tat, würde das Blut tausender unschuldiger Menschen an meiner Hand kleben. Hätte ich doch bloß einmal meinen Mund gehalten.
Ich habe mir schon oft meinen Tod ausgemalt. Wie, wann und wo ich sterben würde, doch ich hätte nie damit gerechnet schon so früh diese Welt zu verlassen. Wie würde es sich anfühlen? Viele sagen es sei ein befreiendes Gefühl. Kann man seinen Tod wirklich so leicht hinnehmen? Doch würde ich überhaupt mit mir selbst leben können, wenn ich nicht aussteige. Tausende Menschen. Tot. Wegen meines Fehlers. War ich überhaupt bereit für meinen eigenen Tod? Ich hatte noch einige ungeklärte Dinge die ich erledigten wollte. Doch nichts bereue ich so sehr, wie ihr es nicht gesagt zu haben. Ich hatte es immer vor mir her geschoben. "Morgen ist auch noch ein Tag, dann werde ich es ihr sagen", doch nun weiß ich nicht ob dieses "morgen" für mich überhaupt existiert. Ich hatte Angst. Angst vor ihrer Reaktion. Jetzt habe ich nur noch Angst davor, dass sie es nie erfährt. Ich fürchtete nicht den Tod, vielmehr fürchtete ich mich davor, sie im unwissenden zu lassen. Wäre noch genug Zeit dafür, es ihr jetzt zu sagen? Ich spürte etwas Nasses über meine Wange kullern.
"Linda, ich. . ", die Durchsage unterbrach mich in meinen Gedanken. "Einfahrt in Nichwiplatz. "
Ich blickte hinunter auf meine Armbanduhr. 10 Sekunden bis die Ubahn in der Station anhielt. In wenigen Augenblicken musste ich eine Entscheidung treffen.
Tief einatmen. Ausatmen. Ich tat das Einzige, was in diesem Moment wie die richtige Entscheidung wirkte.
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