Im Fluss der Zeit
Manchmal vergeht die Zeit anders. Doch die Strömung dieses Flusses verändert sich kaum. An seinem Ufer stand einst ein Haus. Ein imposantes Bauwerk, wie aus den Geschichtsbüchern, die Sommerresidenz eines Senatoren. Seine Frau und sein Sohn hielten sich dort auf, weit weg von der stickigen, staubigen Stadt. Die frische Luft sollte dem Kind guttun. In der Nacht, in der die Zeit stets zu langsam verging, flüsterten die Sklaven über die Tränen der Mutter, die am Sterbebett ihres Sohnes die Götter um Gnade bat. Doch das Rauschen des Flusses schien ihre Bitten zu übertönen. Am nächsten Morgen wurde hinter dem Haus ein Grab ausgehoben. Wenig später ein zweites, für ihren Mann. Er fiel auf einem Feldzug. Ein Speer durch die Brust. Es war nicht der erste Krieg, und auch nicht der letzte.
Imperien zerfielen, Könige wurden gekrönt, Schwerter geschwungen. Die verwitterten Steine der Ruine des Hauses neben dem Fluss wurden von Bauern herbeigehievt um das Fundament ihrer Holzhütten zu stärken. Jeden Abend nach der Ernte wateten sie durch den Fluss, um bis in die späten Abendstunden Steine für die Residenz des Leibherrn aufeinander zu stapeln. Die Mauern reichten bald über jeden Baumwipfel im ganzen Tal. Die Burg stand. Nur die Fahne auf der Spitze des linken Turmes fehlte noch. Der mutigste Bauer fasste sich ein Herz und erklomm den Turm, die Fahne zwischen den Zähnen. Begleitet von dem Jubel des Dorfes hisste er das Wappen seines Herrn. Aber er lehnte sich zu weit zurück, rutschte aus und fiel in den Fluss. Es war, als ob die Zeit stehengeblieben wäre. Doch die Leiche wurde von der Strömung mitgerissen, die Fahne wehte im Wind und das Leben ging weiter.
Bald entstand eine Stadt auf beiden Seiten des Flusses. Dort verging die Zeit schnell. Wagen ratterten über das Kopfsteinpflaster und Kaufmänner eilten geschäftig durch die Straßen. Der Fluss brachte regen Handel an die Häfen der Stadt. So vergingen Jahrhunderte, und die Stadt blieb bestehen.
Dann kam der Krieg. Jener, der die ganze Welt in seinen Schlund zog.
In einem Mietshaus neben dem Fluss betete eine Mutter für ihren Sohn. Eine Granate hatte seine Beine zerschmettert, der hässliche Matsch von Knochensplittern und Blut war bis zur Mitte der Oberschenkel entfernt worden. Das Lazarett hatte ihn nachhause geschickt. An der Front brauchte man eben Kniescheiben. Nun kniete die Mutter vor dem Krankenbett ihres Kindes und flehte wie nur eine Mutter flehen kann. Dieses Mal waren die Götter gnädig.
Heute steht neben dem Fluss ein Reihenhaus. Die Zeit vergeht, wie sie vergehen soll. Die Bewohner gehen ein und aus, manchmal lachend, manchmal weinend. Ich frage mich, ob sie wissen, dass sie nicht die ersten dort sind. Ob sie es wirklich wissen. Der Fluss weiß es. Er rauscht und rauscht. Der Zukunft entgegen.
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