Im Takt der Sekunden
Die Welt rauscht.
Straßen voller Leute, Autos, Motoren, Stimmen – alles rennt nach vorne, als gäbe es kein Zurück. Ich sehe Gesichter, die kaum mal stehen bleiben, Hände, die dauernd nach dem Handy greifen, Augen, die schon beim nächsten Termin sind. Das Tempo hat uns im Griff. Es schlägt wie ein unsichtbares Metronom, und keiner traut sich, einfach mal auf Stopp zu drücken.
Ich frag mich oft: Wer bestimmt eigentlich dieses Tempo? Sind es die Uhren, die überall hängen, die Handys, die dauernd vibrieren? Oder sind wir es selbst, die das alles mitmachen, als hätten wir Angst, einen Moment zu verlieren? Wir laufen schneller, um nicht hinten zu sein. Aber hinten bei was? Bei der Schule? Bei der Arbeit? Beim Leben?
Gestern bin ich fast gerannt, um den Bus noch zu erwischen. Am Ende habe ich nur gesehen, wie die Türen vor meiner Nase zugingen. Zu spät, zu langsam. Heute sitze ich einfach am Fenster und sehe, wie ein Blatt im Wind runterfällt. Es fällt so langsam, macht kleine Kreise in der Luft – und niemand hetzt es. Kein Plan, kein Druck – nur Bewegung, weil es eben so ist.
Vielleicht ist Tempo gar kein Feind, sondern etwas, das wir uns aussuchen können. Manchmal schnell, wie ein Trommelwirbel, manchmal ruhig, wie ein Herzschlag im Schlaf. Wir können beschleunigen, stolpern, Pause machen. Aber das Schwerste ist: überhaupt langsamer zu werden, wenn alle anderen schneller werden.
In der Schule tippen die Finger auf den Laptops, Nachrichten poppen auf, und sogar die Pausen fühlen sich kurz an. „Mach schneller“, sagt die Welt, „sonst verlierst du.“ Aber was verlieren wir eigentlich? Eine Note? Fünf Minuten? Oder das Gefühl, dass wir selber bestimmen dürfen?
Ich denk dann oft an die alte Uhr bei meiner Oma. Sie war nie richtig genau, mal ging sie vor, mal nach. Aber keiner hat sich aufgeregt. Sie war einfach da, und ihr Ticken hat den Raum ruhig gemacht. Neben dieser Uhr konnte man Tee trinken, Karten spielen oder einfach nichts tun. Dort habe ich gelernt: Tempo ist nicht nur Geschwindigkeit – es ist auch eine Haltung.
Heute spüre ich beide Stimmen in mir: die eine sagt „Mach schneller!“, die andere sagt „Bleib stehen!“. Ich höre den Lärm der Stadt, das Drängeln, die Autos, die Stimmen. Und gleichzeitig höre ich mein eigenes Herz, das leiser schlägt, als die Welt es will.
Vielleicht ist das die Kunst: nicht das Tempo von anderen nachzulaufen, sondern selbst zu entscheiden. Ein Lied zu finden, das zu uns passt. Manchmal laut, manchmal leise. Denn Zeit vergeht nicht einfach – sie begegnet uns. In der Hektik, im Warten, im Verlieren und im Gewinnen.
Und manchmal, wenn wir anders gehen als alle anderen, merken wir, dass es kein Richtig oder Falsch gibt.
Es gibt nur Schritte, die wir machen – schnell oder langsam, im Rhythmus oder auch daneben. Solange wir sie selbst machen, tanzen wir nach unserem eigenen Takt.
Das Tempo gehört uns.
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