Im Tempo der Zeit
Eines Tages merkst du, dass die Zeit nicht mehr kriecht,
sondern rennt.
Dass Sekunden schneller fallen,
als du sie greifen kannst.
Früher warst du noch ein Kind,
hast Sommer gezählt wie Sterne.
Jeder Tag dehnte sich,
ließ dir Raum zum Atmen,
zum Lachen,
zum Wachsen.
Heute stolperst du durch Wochen,
die sich wie Stunden anfühlen.
Du hetzt dem Morgen hinterher,
während der Abend schon im Nacken sitzt.
Das Leben hat das Tempo gewechselt,
ohne dich zu fragen, ob du mithalten kannst.
Dein Körper wird älter,
deine Gedanken schwerer.
Dein Vater sitzt im Sessel.
Noch immer dein Vater,
aber nicht mehr dein Held.
Nur ein Mann, schwer geworden
von Jahren und Enttäuschungen.
Du fragst dich,
wann er aufgehört hat, unbesiegbar zu sein,
wann die Jahre ihn eingeholt haben.
Deine Mutter zählt graue Haare im Badezimmer
und kämpft mit Haarfarbe
gegen den Takt der Jahre.
Und du selbst?
Du spielst erwachsen,
doch in dir wohnt noch dieses Kind,
das immer noch wartet,
dass jemand die Schaukel anschubst.
Tempo heißt, dich selbst anzuschubsen.
Tempo heißt, laufen, auch wenn deine Beine brennen.
Tempo heißt, das Gewicht weiterzutragen,
das dir niemand abnimmt –
weil jeder im eigenen Rhythmus gefangen ist.
Du erinnerst dich an Freundschaften,
die ewig halten sollten.
Doch sie sind verblasst
wie alte Lieder,
die niemand mehr singt.
Und die wenigen, die geblieben sind,
reden mit dir,
als wärst du noch die Gleiche.
Obwohl du selbst nicht einmal mehr weißt, wer du jetzt bist.
Die Zeit ist ein Dieb.
Sie stiehlt dir das Gestern,
während du noch versuchst,
das Heute zu verstehen.
Sie reißt dich mit,
ob du bereit bist oder nicht.
Und du lernst:
Manchmal bedeutet Erwachsenwerden,
den eigenen Puls zu beruhigen,
während die Welt rast.
Du atmest tief,
zählst: eins, zwei, drei –
und für einen Moment verlangsamst du die Zeit.
Nur für dich.
Nur hier.
Doch draußen drängt die Zukunft schon,
zieht dich weiter,
immer weiter.
Und du fragst dich:
Wird es dir jemals gelingen,
in diesem Tempo nicht nur mitzuhalten,
sondern wirklich zu leben?
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