Im Zug des Vergessens
Zweihundertfünf, zweihundertsechs.
Wieder tausend Lichtpunkte. Wenn ich die Augen halb schließe verschwimmen sie immer mehr, werden zu größeren Flecken. Die meisten weiß, manche grün und rot.
Sie sausen vorbei. Sie halten nicht an. Ich halte nicht an. Ich fahre weiter, unfähig zu stoppen. Auch wenn ich die Augen schließe sind sie noch da.
Von hinten ertönt ein leises Knacken.
Zweihundertzwanzig, zweihunderteinundzwanzig,
Ich zähle die Sekunde. Dann vergeht die Zeit langsamer, als wenn ich die Minuten zähle.
Dann scheint sich für einen kurzen Moment wieder alles zu beruhigen. Ich muss nur die Sekunden zählen, dann habe ich wieder Macht über die Lage.
In einer Sekunde ändert sich kaum etwas, in einer Woche schon - ich kann die Dinge kontrollieren.
Der Regen prasselt laut auf der großen Windschutzscheibe – ein stetiges Tremolo der Wolken.
Vor achtundfünfzig Sekunden hatte sich der Himmel noch nicht unter einer grauen Decke versteckt. Da hatte ich noch den weißen Mond hoch über den schwarzen Silhouetten der Bäume gesehen, die wie Scherenschnitte die lange Allee einzäunten.
Vor zweiundsechzig Sekunden hatte sich ihr Auto noch bewegt.
Hals über Kopf fahre ich weiter, als könnte mich der graue Qualm vertilgen, wenn ich nur nicht schnell genug davonkommen würde.
Ich überlege. Soll ich umkehren?
Soll ich nach hinten schauen?
Einfach weiterfahren.
Nur nicht nach hinten schauen. Dann ist vielleicht auch nichts geschehen.
Vielleicht fährt das andere Auto dann auch noch.
Doch ich blicke zurück, die Konturen des Autos sind noch deutlich zu sehen, wie es dort nach dem Tanz mit dem Schicksal, nach Drehen und Wenden schließlich seinen Platz eingenommen hat – nur noch ein Wrack, eine Ruine, ein Skelett.
Das Zischen und Knacken wird lauter, schwillt an zu einer ominösen Sinfonie, doch der Schlussakkord ist noch weit entfernt. Ich will schreien, um diese niemals endenden Geräusche zu übertönen, aber ich bleibe stumm, als würde das Geschehene in mich eindringen, mich okkupieren und mich schließlich von innen auffressen, wenn ich nur einmal den Mund öffnen würde. Als würde dann auch das Eingeständnis, dass all das meine Schuld war, mich überkommen.
Wieder schaue ich in den Himmel im Rückspiegel und teils bewundere ich die Einzigartigkeit dieses Spektakels, teils blickte ich hinauf mit einer unendlichen Aversion.
Wie ein graues Tuch breitete sich der Qualm immer weiter über den Himmel, als wolle er den letzten schwarz-blauen Fleck vernichten.
Soll ich zurückfahren, ihr helfen?
Er überlegt nicht. Ihn mitnehmen oder wieder gehen. Er hat sich schon entschieden.
Unser verhasster Freund.
Ich weiß es.
Jetzt im Nachhinein.
Einfach weiterfahren.
Ich übergebe mich den langen schwarzen Armen, die mich auf der geraden Allee immer weiter weg von dem Schnittpunkt unserer beider Achsen entfernen, immer weiter im Zug des Vergessens. Im Rückspiegel sehe ich nun nichts mehr, nur den winzigen Rinnsal aus silbernem Qualm, der sich hoch in der Luft mit der Schwärze der Nacht vereint.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX