Immer zweimal im Leben. . . von Leonie Deutschmann
Die letzten Strahlen der Sonne fanden ihren Weg zu einer von vielen winzig kleinen Schweißperlen, wo sie sich schließlich festsetzten und glitzernd funkelten. Der Ursprung dieses Phänomens war das rasende Tempo eines Mannes, der unaufhaltsam die Straße hinuntereilte. Seine Schläfen mit einer dünnen Spur seines Schweißes geschmückt, erinnerten ihn unaufhörlich an seine Taten, die ihn in diese Lage gebracht hatten.
Erneut traf seine dünne Schuhsohle den erwärmten Asphalt der Straße. Abermals schüttelte er verächtlich den Kopf, während sich seine Gedanken gegenseitig tadelten.
Wäre er nur etwas schneller mit dem Umpflanzen gewesen, hätte er seine Schicht früher beenden und seine Suche nach einem Restaurant rechtzeitig starten können.
Doch wären seine Kunden erneut von ihm enttäuscht gewesen, hätte er seine Arbeit nicht mit größter Sorgfalt erledigt? Ein wunderschöner Anblick war für sie immerhin so wichtig wie die Luft zum Atmen.
War es dann endlich fertiggestellt und hatte er auf jedes kleinste Detail geachtet, so betrachteten sie sein Meisterstück nur für wenige Minuten, einmal im Jahr. Im besten Fall hinterließen sie eine Kerze, die zu der Harmonie des Kunststückes beitrug, doch selbst diese musste er im Endeffekt wieder entsorgen.
Natürlich hatte er sich unter seinem Beruf als Friedhofsgärtner kein Zuckerschlecken vorgestellt, aber dass ausgerechnet heute, an dem einen Tag im Monat, drei neue Aufträge eingehen würden, zerrte doch ziemlich an seinen Nerven.
Abermals zog er an einem Schild im Aushang vorbei, das die Schließung des Gasthauses erkennbar machte. Ein tiefes Seufzen bestärkte seine angespannte Bewegung, als sich einige Finger in den herunterhängenden Strähnen seiner Haare vergruben.
Beinahe hätte er den Versuch aufgegeben, noch ein angemessenes Restaurant zu finden und sich seine begrenzte Zeit anderweitig zu vertreiben, als ihm ein winziger, heller Punkt am Ende der Straße neue Hoffnung vermittelte.
Bei näherer Untersuchung enthüllte sich das hoffnungsvolle Lichtlein tatsächlich als Schild eines Gasthauses, welches… vollkommen überfüllt war.
Von Verzweiflung übermannt hatte er erneut die Absicht sich abzuwenden, als ihm eine junge Frau, die ganz alleine an einem Tisch saß, ins Auge sprang. Ohne zu Zögern ergriff er die Initiative.
»Entschuldigen Sie? Ist neben ihnen noch ein Platz frei? «
Ein freundliches Lächeln zierte seine Lippen, während er voller Hoffnung auf die Frau herabblickte. Diese zog überrascht die Nase aus dem Magazin in ihren Händen, bevor sich ihre Lippen ebenfalls in ein freundliches Lächeln verzogen und sie bejahte.
»Manfred, sehr erfreut«, erklärte er kurz, nachdem er sich gesetzt hatte, seine Hand ausgestreckt nach vorne haltend. »Sie wissen gar nicht, wie froh ich bin, doch noch ein geöffnetes Restaurant, geschweige denn einen Platz gefunden habe. «
»Louisa, freut mich auch. Sie sagen es! Ich bin auch erst vor wenigen Minuten eingetroffen und hatte solch ein Glück«, erwiderte die Frau mit heller Stimme.
Wenige Minuten verstrichen, als ein Kellner angesaust kam, um die Bestellungen entgegenzunehmen. Wie auch alle anderen einheitlich gekleidet, unterschied sich der Mann äußerlich nur durch seine Gesichtszüge und das Namensschild mit der Aufschrift »Diego« auf seinem weißen Hemd.
»Bitte, was darf ich Ihnen denn-. Ach, Sie haben aber eine süße Katze auf ihrem T-Shirt, junge Dame! «
Nachdem er sich selbst mitten im Satz unterbrochen hatte, funkelten seine Augen vor Freude auf. Manfred vernahm ein entzücktes Lachen zu seiner Linken, gefolgt von der klaren Stimme Louisas.
»Sie mögen allen Anscheins nach Katzen, liege ich da richtig? «
»Ja, aber natürlich! Wissen Sie, dass Katzen im alten Ägypten als heilig galten. Ich bin dafür, dass wir diese Tradition wieder einführen, ein einfacher Weltkatzentag ist viel zu wenig für diese wunderbaren Geschöpfe«, brabbelte Diego mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. »Ich habe auch jedes Mal eine kleine Katzenfigur dabei, wenn ich es wieder einmal mit dem Glücksspiel versuche. Ganz tolle Tiere sind das! «
Manfred konnte den Versuch Louisas, sich ein lautes Lachen zu verkneifen, in jeder Faser ihres Gesichtes ausfindig machen, was auch ihn zu einem leichten Schmunzeln veranlasste.
Als Diego seinen eigentlichen Zweck an dieser Stelle erkannt hatte, griff er hastig nach seinem Block und fragte erneut nach der Bestellung.
»Wissen Sie, ich habe eigentlich gar keine Zeit, hier über meine Vorlieben zu sprechen. Wir sind gerade völlig belegt im Restaurant, ich bringe Ihre Gerichte schnellstmöglich vorbei! «
Kaum hatte der letzte Laut seine Lippen verlassen, hastete er auch schon wieder ins Innere des Gebäudes zurück. Nicht einmal eine Sekunde verging, als lautes Gelächter der beiden ertönte.
»Das war ja mal ein interessanter Herr«, behauptete Manfred, nachdem er sich wieder gefangen hatte.
»Nicht doch, er war richtig niedlich, wenn auch etwas seltsam«, betonte Louisa und gab einen Seufzer von sich. »Zumindest hat er seinen Spaß am Arbeitsplatz. «
»Sie etwa nicht? «
»Nun ja, selbst wenn man sich unter einer Volksschullehrerin einen entspannten Alltag vorstellt, da man ja mit Kindern zusammenarbeitet, können diese kleinen Gören einen schon mal leicht zur Weißglut bringen. «
»Über Gören könnte ich Ihnen einen ganzen Roman schreiben! «, lachte Manfred bald von Louisas Lachen bekräftigt.
»Bitte, sparen wir uns die Förmlichkeiten und machen wir uns einen schönen Feierabend«, beschloss die Lehrerin kurzerhand, stützte sich mit den Ellbogen auf die Tischplatte und legte neugierig das Kinn auf ihre Hände.
»Dann erzähl mal die Geschichte zu einer deiner Kröten. «
» » » « « «
»Ich hätte niemals vermutet, dass man als Friedhofsgärtner solche Nerven benötigt! «, rief Louisa begeistert und hielt sich den Bauch vor Lachen. »Eine Hecke in der Form eines Löwen, du bist wirklich bewundernswert! «
»Ist doch nur die Wahrheit, manche Kunden haben wahrlich schräge Wünsche, ihre Verstorbenen zu ehren. «
Mit einem Schmunzeln nahm er einen Schluck von seinem Mineralwasser und warf anschließend die nächste Bemerkung in den Raum.
»Ich hatte ja auch vor, mich mit Kindern zu beschäftigen, aber die hatten immer Angst vor einem großen, starken Mann wie mir. «
Erfreulicherweise waren die beiden eine der letzten Gäste für den heutigen Abend, ansonsten wären sie bei Louisas lautem Gelächter bestimmt ermahnt worden.
»Du bist mir ja einer! Wenn es mit Kindern nicht funktioniert, gehen wir halt auf den Friedhof arbeiten! «
Entzückt warf sie ihren Kopf in den Nacken und lachte lauthals in die Stille Atmosphäre hinein. Auf einmal stockte sie jedoch und starrte mit ernster Miene in Manfreds Augen.
»Wie dramatisch. «
Abermals schallte ihr herzerfrischendes Lachen durch die leeren Gassen der Umgebung. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, strich sie eine schwarze, heruntergefallene Haarsträhne hinters Ohr und warf einen Blick auf ihre Uhr. Das schwache Licht der Straßenlaternen stellte nur eine geringe Sichtbarkeit kleiner Dinge zur Verfügung, aber dennoch konnte Louisa den Stand der Zeiger erkennen.
»Ach du meine Güte! Schon halb zehn? Ich muss noch Übungen für die Kinder bereitstellen, das geht sich zeitlich doch nie mehr aus! «
Betrübt ließ sie den Kopf hängen, welcher leicht nach links und rechts schwang.
»Du musst mich entschuldigen, ich habe vollkommen die Zeit übersehen! «, bat Louisa hastig und erhob sich von ihrem Platz.
»Ich sollte auch nach Hause. Danke dir für den tollen Abend«, verabschiedete sich Manfred, nachdem er ebenfalls aufgestanden war. »Hoffentlich sieht man sich wieder. «
»Aber gewiss doch, man sieht sich schließlich immer zwei Mal immer Leben! «
Mit einem letzten Lächeln auf den Lippen verschwand sie ins Dunkel der ewig langen Straße.
» » » « « «
Einige Wochen verstrichen und schließlich vergaß Manfred sich bei Louisa zu melden oder ihren Arbeitsplatz aufzusuchen, trotz der ihm vorhandenen Informationen, die ihm beides ermöglicht hätten. Ihm hatte schlichtweg die Zeit gefehlt, sich einer anderen Tätigkeit als seinen Pflichten als Friedhofsgärtner zu widmen.
Es war ein verregneter Mittwoch, er war gerade auf dem Weg, die Blumen eines prunkvollen Grabes zu erneuern, als ihm die Luft in der Lunge wegblieb.
Seine Augen fest fixiert auf jene sechs Buchstaben vor seiner Nase. Letzten Endes begannen sie langsam nach unter zu wandern.
…und eine der besten Lehrerinnen (laut ihrer Schüler). Sie wird in unserer Erinnerung weiterleben!
Schließlich bemerkte Manfreds Körper den Sauerstoffmangel in seiner Lunge und gab mit einem ruckartigen Keuchen den Startschuss, diese erneut zu füllen.
Doch Manfred schenkte dieser Fehlsteuerung keinerlei Beachtung. Seine Gedanken kreisten um einen ganz bestimmten Satz.
»Man sieht sich immer zweimal im Leben…«
Seine Stimme war kaum mehr als ein schwaches Hauchen. Hatte sie ihren Abschied absichtlich so formuliert? Manfred entsann sich, dass sich ihr letztes Lächeln an jenem Tag mit all den anderen widersprochen hatte. Auch wenn es kaum erkennbar gewesen war, so hatte er doch einen Hauch von Trauer darin gespürt.
Hatte sie es gewusst?
Mit einem kräftigen Ruck zog er eine verwelkte Pflanze aus dem dazugehörigen Blumentopf heraus.
Hätte sie ihm gesagt, wäre es anders gekommen?
Die zerstörten Wurzeln hingen an den Kanten der Schubkarre herunter, nachdem er die tote Pflanze hineingeworfen hatte.
Oder wusste sie es nicht?
Begleitet von leisem Hieven fuhr er die Karre zu seinem Schuppen.
Hätte er es dennoch verhindern können?
Sein Blick fiel auf eine erloschene Kerze, die er auf einem kleinen Tisch innerhalb der Hütte abgestellt hatte.
Ließe sich die Vergangenheit verändern? Hätte es vielleicht genügt, wenn er mit Louisa in Kontakt getreten wäre oder hätte er sie erst gar nicht nach Hause gehen lassen dürfen?
Wäre es anders gekommen, wenn er seine Zeit anders genutzt hätte, wenn die begrenzte Zeit Louisas anders ausgesehen hätte?
Es verging kein weiterer Tag, an dem er nicht nach jeder Arbeitsstunde innehielt, sich eine der Blumen oder Kerzen aussuchte und sie zu ihrem Grab brachte.
Meist stand er nur stillschweigend davor, oder so wirkte es zumindest. Doch seine Gedanken schrien.
Er konnte es nicht ändern, damit hatte er sich abgefunden. Womöglich hätten sie die Zeit besser nutzen können. Vielleicht war sogar jetzt noch der Zeitpunkt, an dem er seine Zeit verschwendete.
Wieder dachte er darüber nach.
Verschwendet er hier nicht seine Zeit? Wer würde ihm seine Arbeit anerkennen?
Er brachte seinen Handrücken an seine Wange, um sich deren Feuchte zu entledigen.
Brauchte er denn Anerkennung für seine Taten? Sich daran zu erfreuen, etwas Gutes zu tun, ohne etwas dafür zu bekommen? Galt dies stets als Verschwendung seiner Zeit?
Ein leises Schluchzen entfloh seinen Lippen.
»Können wir denn überhaupt noch wissen, wie wir unsere Zeit richtig nutzen sollen, Louisa? Ist nicht alles letzten Endes Verschwendung? «
Er ließ die verwelkte Rose in seiner Hand fallen und ging davon.
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