Inas Wunsch
Eine Träne rollte über Inas Wange. Sie seufzte und blickte zu den kahlen Bäumen, und dem ausgetrockneten Bachbett. Plötzlich glitzerte etwas vor ihr. Ina blinzelte. Leuchtend helle Strahlen. Ein paar Schritte rückwärts. Das Licht fand sich an einer Stelle und strahlte so gleißend, dass Ina die Augen schließen musste. Als sie sie wieder öffnete, sah sie eine kleine, leuchtende Kugel mit schneeweißen Flügeln. Ina bekam große Augen. Sie flog auf sie zu!
„Ich heiße Ropei!“, sagte die Kugel: „Ich komme aus dem Jahr 2022!“
„So alt bist du schon?“
Ropei ging nicht auf die Frage ein. „Ich kann deinen Wunsch erfüllen!“
Ina strahlte.
„Aber du musst mithelfen! Ich kann ein Portal in meine Zeit öffnen, allerdings musst du alleine hindurchgehen!“
Ina zuckte die Schultern. „Durch Türen zu gehen ist nicht schwer!“ Ropei flatterte wild mit den Flügeln. „Aber Ina! Sich durch den Raum zu bewegen ist einfach! Sich durch die Zeit zu bewegen, erfordert Talent! Hast du eines? Das du von Herzen gerne tust?“ Ina nickte.
Ropei flog zum Bach. „Wasser ist flüssig wie die Zeit!“, erklärte die Fee. Sie hielt inne und begann stärker zu leuchten. Eine glitzernde Scheibe bildete sich. Ropei war verschwunden. Ina atmete tief durch. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und machte einen Knicks. Drehte eine Pirouette. Ina vollführte viele fließende Bewegungen, und obwohl sie ihre Ballettschuhe nicht trug, gelangen ihr die Tanzschritte perfekt. Sie wirbelte durch die Luft, streckte ihre Arme aus, tanzte auf den Zehenspitzen. Nach einiger Zeit fand sie sich direkt vor dem Portal, nahm all ihren Mut zusammen und sprang hindurch.
Es knarzte, als Ina aufkam. Ihre Augen strahlten. Überall war es weiß! Die Sonne glitzerte am Himmel, der Schnee glitzerte am Boden. Ina hörte einen Bach unter der weißen Schicht rauschen. Vorsichtig hockte sie sich hin und streckte ihre Hand aus. Eiskalt! Sie schüttelte den Kopf und lachte. Nie hätte Ina gedacht, dass Schnee kalt sein würde! Trotzdem nahm sie etwas davon in die Hand. Von Nahem konnte man die einzelnen Flocken erkennen! Zerbrechliche, schimmernde Zacken. Da tropfte etwas. Die Kristalle in ihrer Hand wurden weniger! „Ach so!“, schoss es Ina durch den Kopf. Schnell grub sie ein Loch. Mit der bloßen Hand fasste sie die Erde an. Kalt. Wie der Schnee. „Die Erde muss wärmer geworden sein! Deshalb gibt es dieses weiße Wunder in meiner Zeit nicht mehr!“, murmelte Ina. Sie erhob sich und schaute sich noch einmal um. Lächelte. Und rannte los. Schnee stob auf, während Ina mit ausgestreckten Armen durch den Winterwald lief.
Zehn Jahre später war Ina erwachsen. Schaute oft aus dem Fenster und blickte zu den herunterrieselnden Flocken, die auf dem Gartenzaun des Waisenhauses zum Liegen kamen. Ja, sie war geblieben. Und auch wenn es beizeiten schmerzte, ihr altes Leben verlassen zu haben, ermutigte sie nach all der Zeit immer noch ihre Mission.
Auch in hundert Jahren soll es möglich sein, durch den Schnee zu tanzen …
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