Irgendein Augenblick
Im Augenblick blickt sich mir alles so dicht und unergründlich, wie eine dicke Watte-Wolke, die hinter sich versteckt, was nicht zu sehen ist. Vielleicht das lang erwartete Untergehen von allem, was war und allem, was nicht mehr sein wird. Das Privileg, zu geschehen, für immer genommen, aufgegessen, ausgenommen, diese jene Möglichkeiten des „vielleicht einmal Seiens“. Alles versteckt hinter meiner luftig leichten Wolke, wie eine zuckersüße Baisershaube legt sie sich auf meine Augen, schirmt sie ab von dem ganzen Schlechten, diesem Allesfresser, der jetzt gerade im Moment alles zerkleinert, schön einspeichelt und anschließend verdaut, das einmal gut und teuer war und sein wird auf dieser Welt.
Vielleicht aber auch nicht.
Vielleicht wird auch nur verdeckt der Sonnenaufgang überm Bergeskamm, der Felsspitzen in rotes Licht taucht, es rinnt herab wie schimmernde Blutstropfen von einem gestochenen Finger. Gestochen von der Nadel, die auch die Ebenen zusammengenäht haben muss, so schön, wie sie ineinanderfließen, das Flussbett, dann das Tal, der Wald und schließlich die Bergketten, sie bilden den Gartenzaun. Oh, geheimer Garten, hinter meiner weißen Wolke, so gerne würde ich dich sehen, in grün und gelb und hellorange. Blätter glänzend wunderbar, reich an Farbe, farblich reich, das ist es wohl, was man Blattgold nennt.
Doch alles, was ich sehe, ist nur eine weiße Watte-Wolke. Wenn man ganz genau hinschaut, genauer als mit meinen tauben Augen, sieht man, dass sie im Grundsatz aus tausend klitzekleinen Tropfen besteht, die sich wie feine Diamanten auf endlose Rauchfahnen perlen. Ein Netz aus Glas vor meinen Augen, doch hindurchzusehen ist mir unmöglich, denn auch Spiegel sind eine Art Glas und jenes Glas vor meinen Augen ist von dieser Sorte. Lässt mich nicht hindurchsehen, auf das, was liegt hinter seinem Gitter, das Ende im Verdauungstrakt der Dunkelheit und die goldene Welt umarmt von Bergen, alles nur Vorstellung in meinem Kopf und wahrscheinlich nichts als das. Der Spiegel blickt nur zurück, zeigt mir nur das Sichere, das ganz Gewisse, das, was war und hält es mir vor Augen. Schaut mich an aus seinen großen, unergründlichen Silber-Augen und ich seh vor lauter Vergangenem weder Sonne noch den Regen, ich bin nur blind. Blind vor lauter Nach- und Über- und Durchdenken, blind von der Reflexion im Spiegel, denn dort sehe ich nur, was war und… ja, und mich. Mich, in irgendeinem Augenblick.
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