Irreversibel
Ich wusste, so einen großen Fehler hatte ich noch nie gemacht. Nein, ich habe nicht meine wundervolle Freundin betrogen. Nein, ich habe auch nicht meinen Eltern einen Batzen Geld gestohlen. Ich habe auch sonst niemanden bestohlen und habe auch niemanden verletzt. Nein, was ich getan habe war schlimmer. Viel folgenschwerer.
Am Donnerstagmorgen, in meiner Junggesellenbude, genau um 7: 26 stand ich aus meinem Bett auf und weckte meinen besten Freund. Michi. Wenn ich gewusst hätte, welchen irreversiblen Fehltritt ich machen würde, hätte ich ihn schlafen lassen. Nein, ich hätte Michi gar nicht erst am Mittwoch zum Feiern eingeladen. Ich hätte ihm nicht, wie es ein guter Kumpel tut, mein Sofa zum Übernachten angeboten. Niemals.
Er stand auf, wir machten uns fertig für das Training und tranken zusammen Kaffee. Diese Tasse Kaffee, leer aber benutzt, steht jetzt vor mir, als spottete sie über mich. Nie hätte ich das zu ahnen vermocht. Michi schlürfte den Kaffee mit Milch und sprach von diesen und jenen Dingen. Er meckerte mal wieder über seine Ex-Freundin und wie froh er nicht war, dass er die Beziehung beendet hatte. Ich hakte ein und faselte irgendetwas daher. Unwichtig. Michi meinte nur, er wolle sich mal etwas ganz Neuem und Unbekannten widmen. Ich, Hals über Kopf: „Mir vielleicht?“. Er lachte. „Nein, im Ernst. Ich wollte das, dich, schon länger.“ Michi fragte nur nach meiner ach so wundervollen Freundin. „Alibi. Mehr nicht. Bis zum richtigen Zeitpunkt.“ Er fragte erneut, ob ich Scherzen würde. „Nie. Niemals. Ich fühle schon lange so.“
Mehr war dann da nicht mehr. Er ist hinaus gestürmt, die Türe knallte und ich hörte nur noch die quietschenden Reifen seines Autos, das er am Mittwochnachmittag hier abgestellt hatte. Ich sehe aus dem Fenster genau auf die Stelle, wo das Fahrzeug gestanden hatte. Weg. Verachtend wirkte die leere Fläche. Drei Stunden später der Anruf seiner Eltern. Tot. Autounfall. Überfahrene rote Ampel.
Michi ist tot. Weg. Ich bin schuld. Mein größter und irreversibler Fehler: ich habe meinen besten Freund und meinen heimlichen Angebeteten getötet. Der Fehler war nicht, dass ich ihm endlich meine Gefühle gestanden hatte. Der Fehler war, dass ich egoistischer Weise davon ausgegangen war, er würde damit umgehen können. Aber er hatte sich von seinem besten Freund betrogen gefühlt. War wütend wegen meiner Scharade und jetzt hatte er den Preis für meinen Egoismus gezahlt.
Ich starre die Tasse, leer aber benutzt, an. Sie roch noch nach Kaffee mit Milch. Michi hatte vor ein paar Stunden daraus getrunken. Er wird nie wieder aus dieser Tasse trinken. Und es ist meine Schuld. Die Tasse spottete weiter über mich. Der leere Platz draußen vor meinem Fenster verhöhnte und verachtete mich. Meine Schuld. Hals über Kopf irreversibel.
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