Jeder Atemzug zählt
Du atmest tief durch die Nase ein und langsam durch den Mund wieder aus. Dein Atem verlässt deine Lippen wie ein zarter Nebelhauch, während du deine Gedanken schweifen lässt. Für diesen Augenblick hört die Erde auf sich zu drehen und die Vögel um dich herum verstummen. Für diesen einen Augenblick hört der Wind auf durch dein Haar zu wehen und sogar das Wasser unter dir scheint wie eingefroren. Nochmal atmest du tief ein und aus. Diesmal hält dein Herz für einen kurzen Augenblick inne und die Uhr an deinem Handgelenk erstarrt. Ein letztes Mal atmest du langsam ein und wieder aus. Die Blätter an den Bäumen hören auf zu rascheln, ja sogar die dunklen Wolken bewegen sich kein Stück mehr.
Du öffnest wieder deine Augen und plötzlich setzt sich die Erde wieder in Bewegung; die Vögel fangen wieder an zu singen. Ein leichter Windhauch bläst durch deine Haare und wenn du genau hinhörst, kannst du das Fließen des Wassers wieder hören. Ein weiterer Windhauch lässt die Blätter langsam zu Boden fallen. Auch dein Herz schlägt wieder in einem normalen Takt und mit jedem Herzschlag hörst du die Uhr auf deinem Handgelenkt ein wenig lauter ticken. Deine Augen wandern hinauf zum Himmel, wo die Wolken wieder normal weiterziehen.
Deine Gedanken rasen nicht mehr, nein, mit einem Male sind sie ganz still.
Dein Blick wandert langsam zu dem glitzernden Wasser unter dir. Ein Schritt, nur ein einziger Schritt würde genügen, um hinabzustürzen. Du hast dir drei Atemzüge geschenkt, drei letzte Augenblicke, um vielleicht noch einen Grund zu finden, einen Grund, es nicht zu tun.
Du hast dich schon fast damit abgefunden, dass es keinen Grund gibt. Als du deinen Fuß vorsichtig nach vorne setzt, hörst du, wie kleine Steine mit deiner Bewegung ins Wasser fallen. Du hoffst, nein flehst, dass es doch einen Grund gibt. Irgendeinen Grund.
Ein letztes Mal atmest du tief ein und aus, während du beginnst, zu akzeptieren, dass dies dein letzter Atemzug war. Der Wind tanzt förmlich durch dein Haar und die Vögel singen im Hintergrund schöner als je zuvor. Langsam öffnest du deine Augen und bemerkst plötzlich die schöne Aussicht. Ein leichtes Lächeln bildet sich auf deinem zuerst so verzweifelten Gesicht. Und es scheint als hätte der Wind einen Gedanken mit sich gebracht, denn in diesem Augenblick fängst du an zu realisieren, war deine Verzweiflung, dein flehen nicht vielleicht Grund genug, den letzten Schritt nicht zu gehen? Grund genug noch einen weiteren Atemzug zu nehmen?
Vorsichtig nimmst du einen weiteren Schritt, aber diesmal zurück. Du schaust dich um, bewunderst die vielen schönen Kleinigkeiten, die dir aufgefallen sind, während du probiert hast, deine Gedanken zu sammeln, und dir fällt auf, dass diese kleinen, eigentlich so unbedeuten Augenblicke dir genug bedeutet haben, um den letzten Schritt nicht zu gehen. Du begreifst, dass manchmal die kleinen, unbedeutenden Augenblicke genug sind.
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