Jemand, den ich einmal kannte
Abendessen. Mein achtjähriger Sohn erzählt von der Schule. Meine Frau lächelt in ihren Bissen hinein. Sachunterricht, die Anfänge der Biologie. Die Faszination meines Sohnes für die einfachen Dinge ist beneidenswert. “Jemand, den ich einmal kannte, war Biologin”, sage ich beiläufig.
Jemand, den ich einmal kannte.
Jetzt bist du nur noch jemand, irgendjemand, so wie jeder andere, den ich irgendwann mal gekannt habe, nicht mehr kenne. Irgendjemand - eine nicht näher beschriebene Person. Sind nicht näher beschrieben und nicht relevant das gleiche, dasselbe?
Wie war es, als wir uns irgendwann einmal kannten?
Ich glaube, ich konnte noch Begeisterung an den einfachen Dingen finden, wie mein Sohn heute, Freude am Alltag, meinem Alltag mit dir.
Wir kannten uns aus der Schule. Du sprachst mich an, leicht aus der Bahn gebracht schaute ich auf, fragte dich mit strapaziertem Unterton:
"Wer bist du? ”
“Ich bin Annette"
Annette.
Nach viel gemeinsamer Zeit, gemeinsamen Abenteuern und gemeinsamem Regeln brechen, wurden jemand und ich ein Liebespaar.
Jemand hieß damals noch Annette.
Jemand war nicht irgendjemand, jemand war die einzige Person, um die sich meine Welt drehte. Alle anderen waren irgendjemand.
Wir verstanden uns. Im wahrsten Sinne des Wortes - wir konnten die Gedanken des anderen und deren Begründung nachempfinden .
Wir verbrachten jeden Tag gemeinsam.
Träumten von der gemeinsamen Zukunft. Eine Hochzeit auf Kreta, zwei Kinder, Lucy und Alexis, ein Haus mit Garten in Hietzing. “Zukunft” war ein magisches Wort. Etwas Unrealistisches, weit Entferntes, Unvorstellbares.
Drei Jahre später war ein Teil dieses erträumten Entfernten da - du studiertest Biologie, ich Wirtschaft. Wir waren nach wie vor unzertrennlich, allerdings nunmal Halb-Erwachsene.
Dann dieser Professor.
Alt, bewandert, gelehrt, begabt.
Seine grau melierten Haare störten dich nicht. Mich schon. Mich störte alles an ihm
Unsere Zukunft - von nun an eine getrennte. Du machtest deinen Abschluss in Biologie, später die Dissertation, arbeitetest als Forscherin für Araneaen. Später die Hochzeit mit ihm. Auf Kreta. Jedes Mal, wenn ich die Zeitung aufschlage, denke ich an den Tag, an dem es mich wie eine Kugel traf.
Als ich dir einmal auf der Strasse begegnet bin, und du trotz mangelnder Sonne diese dunkle Sonnenbrille trugst, hätte ich schlussfolgern sollen.
Ein ruhiges Leben am Stadtrand mit ihm, in dem du dem nachgingst was du wirklich gerne machtest, viel Zeit für deine Forschung hattest - deine Leidenschaft. Eine Leidenschaft - etwas, das man so sehr liebt, dass man bereit ist, dafür zu leiden.
Du warst bereit zu leiden.
Eines Montagmorgens die Zeitung aufgeschlagen.
Schlagzeile: X-ter Feminizid in 2021. Täter: ein hochgebildeter Mann.
Feminizid an jemanden, den ich einmal kannte.
Wo bleibt der Zauber, der dich zurück in die Zukunft bringt?
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