Kafka am Strand
„Hallo.“ „Hi.“ Jetzt sind wir also hier. Stehen uns gegenüber, das erste Mal seit Wochen. Sie riecht anders. Sie ist anders. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn Menschen sich in Erinnerungen verwandeln. Obwohl sie vor einem stehen, in Fleisch und Blut, atmend und lebendig sind sie doch verschwunden und der letzte Rest ist in der eigenen Erinnerung gefangen. Sie lebt wie ein Schatten in mir, taucht manchmal in Momenten der Ruhe auf, manchmal besucht sie mich im Schlaf. Die Frau die jetzt vor mir steht hat nichts mehr von ihr. Eine leere Hülle, ein Schatten ihrerselbst. Sie trägt ein anderes Parfum, hat ihre Haare nach hinten gebunden. Ihre Augen blicken auf den Boden, unsicher und suchend, ob sie vielleicht am Asphalt die fehlenden Worte finden könne.
Wir liegen am Strand. Sie liest Kafka, ich lese Nietzsche. Ich denke darüber nach, sie jetzt zu küssen. Ich denke darüber nach, wie es wäre. Ihr nasses Haar klebt in Wellen auf ihren Wangen. Ihre Haut ist salzig, meine Lippen gerissen. Ich küsse sie nicht und lese weiter.
Sie lächelt, aber nicht mit den Augen. „Wie geht es dir?“ „Gut, und dir?“ Wir klingen ganz fremd. Sie wiegt den Kopf. „Auch gut.“
Aber das ist einer der Momente wo lediglich die Augen lesen, die einzelnen Wörter ansehen, sie aber nicht verstehen. Es enstehen keine Bilder im Kopf.
„Hast du ein Feuer?“, fragt sie, die Zigarette im Mundwinkel. Ich denke an die Sommerabende an denen wir gemeinsam am Balkon saßen und Rauchringe in den dunklen Himmel bliesen. Ich gebe ihr ein Feuerzeug. „Ich habe aufgehört“, sage ich plötzlich.
Das ist auch einer der Momente, in dem sich rasch ein dumpfer Schmerz in der Brust breitmacht und pulsiert, wie eine Warnung. Ich muss jede Sekunde, jeden Augenblick aufsaugen denn so glücklich war ich noch nie und werde es auch nie wieder sein. Ich weiß schon jetzt, dass sich diese düstere Erkenntnis schon bald in ein unerfüllbares Verlangen verwandeln wird.
Sie sieht mich überrascht an und unsere Augen treffen sich das erste Mal. Es sind immer noch dieselben Augen.
Ich werde ein unbeschreiblich großes Verlangen spüren, wieder die Sonne auf der Haut zu spüren, sie zu spüren. Ich werde mich nach den Augenblicken sehnen, in denen wir still im Sand lagen, die Blicke ineinander verstrickt, lächelnd.
„Das ist sehr gut“, sagt sie. Ich wüsste gerne, was sie gerade denkt. Denkt sie manchmal an unsere Erinnerungen?
Ich werde mir wünschen, ich könnte in der Zeit zurückreisen, diese Stunden mit ihr am Strand ein zweites, drittes, viertes Mal erleben. Ich werde mir wünschen, ich hätte sie geküsst. Ich werde mir wünschen, dass die Zeit kein Ende hätte.
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