Kampfgeist
Die alte Brücke im Morgentau, kalt und eisern, wie sie sich gegen den Seewind stemmt. Auf den Straßen wenig Verkehr, wie er es gewohnt ist. Keine Fußgänger weit und breit. Zehn Minuten noch. Er ist ungeduldig. Weiß nicht, was ihm bevorsteht, ob Unheil droht, weiß nur, dass er Angst hat.
Wird er kommen?
Seufzend drückt er den Knopf der Ampel. Zu lange, denkt er knurrend, bis die wenigen Karren zum Stillstand gekommen sind. Auf der anderen Seite angekommen. Die Autos setzen sich dröhnend, die Kutschengelenke ächzend in Bewegung. Er verzieht das Gesicht vom Lärm. Blickt auf die Uhr in der Hosentasche: Sieben Minuten noch, bis der Fremde kommt. Oder auch nicht. Ihm selbst hat man jedenfalls eingeschärft, früher vor Ort zu sein.
Aufpassen. Wachsam sein. Konfrontation vermeiden. Man hat ihm gesagt, dass er nach der Übergabe des Visums geschützt sei; Beamte des Untergrunds würden ihn begleiten. Er denkt an seine Gefühle während des Gesprächs, denkt daran, wie gerne er Fragen gestellt hätte: Würde er zurückkehren können? Warum müsse ausgerechnet er das Leid der Ausgestoßenen erfahren? Warum werde er gerettet und nicht andere?
Mit einem schiefen Lächeln blickt er an sich herunter. Da sind sie. Die Narben. Die ihn seit zwei Jahren begleiten. Frustriert reibt er an den gebrandmarkten Stellen, die ihm seine Jugend zerstören sollen. Hörige Ärzte beteuern, die „Krankheit“ sei hochgefährlich für die allgemeine Gesundheit. Daher nun Exil. In weniger wohlbetuchten Familien wird, so hat er gehört, der narbige Nachwuchs einfach vor die Tür gesetzt. Niemand weiß, was dann passiert.
Möwen reißen ihn aus den Gedanken. Salziger Geruch vom Meer, Wind in seinen Locken. Er lehnt sich ans Geländer. Die Narben so vor Blicken geschützt. Er wird aufs Land gehen. Die Familie sollte freundlich sein, aber wie Landleute auf ein unfreiwillig aufgenommenes, womöglich schwerkrankes Adoptivkind reagieren würden, weiß keiner. Wieder eine Frage unbeantwortet. Eltern zurückgelassen, die den Rebellen in ihm kennen. Und fürchten, dass er durch die Ausweisung gebrochen wird. Aber er wird weiterkämpfen. Erst recht für seine Schwester, die sich beim Abschied weinend und flehend an sein Bein geklammert hat.
„He, alles gut?“ Nichts ist gut. Er wendet sich um zu der Hand, die ihm auf die Schulter getippt hat. Betroffen wirkt das Gegenüber bei seinem Anblick. „Durchhalten, Kleiner.“ Der Unbekannte bedeutet, ihm zu folgen. Schweigend gehen sie nebeneinander her.
Die alte Telefonzelle. Schlicht, windgeschützt, unauffällig. Der Mann zieht einen Brief hervor. „Öffne ihn außerhalb der Stadt. Meine Männer haben dir die Fluchtroute erklärt?“ Nicken. „Gut. In 15 Minuten beim Kanaldeckel in der Promenade. Du weißt, welcher. Pass auf dich auf, Kleiner.“ Der Brief wechselt Hände.
Der Mann wird vom Tagesanbruch verschluckt. Wieder alleine, wieder überfordert. Aber er wird kämpfen. Zurück ins Leben, zurück zur Familie, zurück zur Heimat. Der Brief wiegt tonnenschwer. Und erinnert ihn an seine Aufgabe: Kämpfen.
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