Kanonenfutter
Franzl trinkt in Ruhe seinen Kaffee. Es ist etwas Besonderes, er bekommt endlich wieder einen aus richtigen Bohnen. Er schmeckt, wie das bittere Aroma seine Geschmacksnerven durchdringt und eine gewisse Ruhe breitet sich in ihm mehr und mehr aus. Er will einen weiteren Schluck dieses Himmelsgeschenks machen, doch da stolpert ein am Kopf verwundeter Kamerad gegen seine Bank und Franzl verliert sein so lang erwartetes Gut nach dem ersten Schluck. Aus seiner Kaffee-Utopie herausgerissen, erkennt und riecht er nicht mehr den Duft seines Bohnengetränks, sondern den Gestank von nasser Erde gepaart mit verrottenden Leichen, der zu dieser Jahreszeit besonders penetrant die Aufmerksamkeit seiner Nase in Anspruch nimmt.
Er beschließt, sich zu Paul, seinen früheren Schulkameraden, zu setzen und mit ihm römische Mühle zu spielen. Er kannte dieses Spiel mit 3 Steinen pro Spieler und einem hölzernen Untergrund, in den eine Art von kreisförmigen Linien geschnitzt war, noch nicht. Das ist wohl das einzig Sinnvolle, das er seit mehreren Monaten gelernt hat, wenn man vom Überleben absieht. Paul ist erfreut, als er Franzl sieht, da so gut wie niemand während einer Sinfonie der gegnerischen Kanonaden mit ihm spielen will. Dabei weiß er als Korporal ganz genau, dass der Feind in der Stille zum Tiger wird.
Während jeder der Beiden zu glauben scheint, demnächst zu gewinnen, der am Kopf verwundete Soldat noch immer durch die Gegend taumelt und in der Ecke ein Rekrut weint, verstummt der mächtige Regen aus Feuer. Nach einigen Minuten ohne Beschuss wittert Franzl etwas, er hat ein Gefühl, dass etwas nicht stimme. Er riskiert den Blick nach draußen und sieht den unverkennbar schönen Nachthimmel, der ohne Lichtblitze in neuem Glanz erstrahlt. Er genießt den Augenblick für einige Sekunden, bis ihn die Stille erschreckt, ja sogar verängstigt. Zu jeder Sekunde könnte der Feind von oben herabregnen und ihn mit Bajonetten sämtliches Leben aushauchen. In diesem Moment fällt es ihm auf, es passiert schon zu lange nichts, die andere Seite ist sicher gerade dabei, die Offensive vorzubereiten und Paul seine römische Mühle wegzunehmen. Könnte er so etwas zulassen und sollte er einfach warten, bis er erstochen wird? Nein, Franzl muss handeln, er wird der Held dieses Abends sein. „Zu Hause wird man mir zujubeln“, denkt er verträumt.
Daraufhin beschließt er, sich hinauf ins Niemandsland zu bewegen, die Schützengräben zu verlassen und oben den Feind in einem Überraschungsmanöver zu verscheuchen. Hals über Kopf rennt er zu der Leiter und steigt auf in die Finsternis. Der riesige Scheinwerfer beachtet ihn nicht, er kann sich also unbemerkt durch Blut und Morast bewegen. Plötzlich hört er ein Rufen. Es ist Paul, der ihm befiehlt, sich sofort zurückzubegeben. Jedoch schreit er so laut, dass ein feindlicher Scharfschütze ihn bemerkt. Sofort zischt eine Kugel an Franzl vorbei, die seinen vorigen Mitspieler zwischen die Augen trifft und alle Hoffnung auf eine Revanche erkalten lässt.
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