Kapitel 1
Ruhe wird überstrapaziert, bei Verletzungen sollte man weiter rennen. Es sei denn, die Verletzungen sind so stark, dass man es auf einer Skala von eins bis zehn auf die sechs schafft. Ich weiß das, weil meine Mum Ärztin ist. Ich habe ihr praktisch schon mein ganzes Leben lang bei Operationen zugesehen und assistiert. Nach 20 jährigen Assistentendienst lernt man so einiges dazu. Als Arztstochter weiß man das eben. Jeder hat immer so große Erwartungen an einem, da wird mir schlecht. "Wow, deine Mum ist Ärztin. Ist ja toll. Ich weiß schon, du wirst genauso eine tolle Ärztin wie deine Mutter. Schon cool, wenn man eine Ärztin als Mutter hat. Ich wäre auch gerne eine Ärztin. " Ach ja, echt. Ist nicht war, krass. Tja nur leider ist das nicht das, was ich will. Doch das kann ich meiner Mum nicht sagen, dass würde ihr Herz brechen. Ich sah auf meine Armbanduhr. Das letzte Erinnerungsstück , dass ich von meinem Dad bekommen habe, bevor er für immer von unserer Bildfläche verschwand. "Ja, nur noch 20 Minuten und ich habe meine Bestzeit erreicht. Los, du schaffst das", dachte ich. Ich sprintet auf den Abgrund zu und wiederholte immer wieder dieselben drei Wörter. "Ich schaffe das. Ich schaffe das. Shit, ich schaffe das nicht", meine Beine landeten mit einem stumpfen Prall auf der anderen Seite des Waldes. Mein Knöchel rutschte auf dem nassen Erdboden ab, "Aahh. " Ich verlor das Gleichgewicht und taumelte nach hinten. Puhh, gerade noch rechtzeitig, einen Schritt nach hinten und ich wäre Fischfutter. "Tut mir leid Fische, heute nicht. " Ich richtete mich vom kalten Boden auf und versuchte nicht wieder zu stolpern. Mein neuer Trainingsanzug ist völlig im Arsch und meinen neuen Laufrekord kann ich jetzt auch vergessen. Als ob das noch nicht genug Chaos für die ganze restliche Woche wäre, fiel so ein verfluchter Tannenzapfen direkt in mein Gesicht. Wütend schlug ich einen Ast, der mir im Weg war, zur Seite. So wie ich aussah, wollte ich sicher keinem begegnen. Nicht einmal Loch-Ness-Monster persönlich würde mich sehen wollen. Aufgeschlagen Knie, zerkratzte Hände, überall Schlamm auf dem Trainingsanzug und zersauste Haare. "Na toll", ich humpelte nach Hause und versuchte dabei nicht den Verstand zu verlieren. Ich brauchte nicht einmal in den Spiegel zu sehen, um zu wissen, dass ich aussehe wie eine Verrückte. Mum wird das ganz und gar nicht gefallen, dass ich so spät Abends noch alleine im Wald umherirre. Doch dann fällt mir ein, dass Mum gar nicht in der Stadt ist. Sie ist eine Woche lang in Chicago beruflich unterwegs. Das heißt, ich bin ganz alleine zuhause. Naja, vielleicht nicht ganz alleine. Er wird da sein aber dass wird mich nicht von meinem Trainingsplan abhalten. "Reiß dich zusammen Vanessa, reiß dich zusammen", dachte ich. Vielleicht merkt er es ja gar nicht und ich komme an dem Wohnzimmer vorbei, ohne auf ihn zu stoßen. Eilig zog ich meine Snickers aus und tappte leise über den breiten Holzflur zum Kühlschrank. Ich brauchte Eis um meine Wunden zu kühlen.
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