Kapitel zwei
Ich stopfte einen Rest meiner Kleider in eine größere Tasche. Bald fanden auch die wenigen Gegenstände, die ich bis zuletzt in diesem Zimmer aufbewahrt hatte ihren Platz in ihr. Trotz der Umstände war ich schon fast beängstigend ruhig. Vielleicht weil ich nicht mehr die Kraft hatte mich aufzuregen. Noch einmal betrachtete ich dieses Zimmer, welches eigentlich mein zu Hause widerspiegeln sollte. Aber ich hatte nur traurige Erinnerungen. Der Schmerz, den ich mit diesem Zimmer und der ganze Wohnung verband, würde vielleicht niemals gänzlich verschwinden. Trotzdem weigerte ich mich, mich zu fürchten. Weder vor meiner Vergangenheit, noch meiner Zukunft.
Ein letztes Mal öffnete ich die Tür meines ehemaligen Zimmers, trat hinaus und schloss diese wieder. Ich sah meine Mutter vor mir stehen. Unsicher was sie tun sollte nestelte sie an ihrem Oberteil rum. Sie würde sich nicht entschuldigen, das wusste ich. Denn sie war nicht der Meinung etwas Falsches getan zu haben. Das war sie nie. Meine Geschwister jedoch warteten nicht lange, sondern umarmten mich stürmisch. Sie werden mich vermissen, meinten sie, und ich solle sie besuchen kommen. Ich versprach es ihnen, denn die beiden würden mir ebenfalls fehlen. Aber auch nur sie.
Ohne mich auch noch einmal umzudrehen wandte ich mich zur Tür und öffnete sie.
„Wir sehen uns dann.“, war das einzige, was die Frau zu mir sagte. Diese Frau, die ich unter normalen Umständen mit Tränen in den Augen verabschieden sollte, der ich dankbar für alles sein sollte. Aber ich konnte ihr nur für den Erhalt meines Körpers durch Geld danken. Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich zum Gehen. Doch etwas ließ mich noch einmal inne halten. Etwas, dass mir sagte, dass ich noch nicht fertig war. Ich hatte genug von dem Leben hier und trotzdem fehlte etwas. Ich nahm meinen Mut zusammen, drehte mich noch einmal um und blickte ihr in die Augen. Ich hatte keine Angst, ich zitterte nicht einmal.
„Du hast mir so viel angetan und dich dann hinter den Worten „Ich liebe dich“ verkrochen, als ob sie alles entschuldigen würden. Ich habe es lange genug ausgehalten, aber ich schwöre dir, wenn du dasselbe bei den Kleinen abziehst, werde ich sie dir wegnehmen.“
Der geschockte aber auch wütende Ausdruck ihrer Augen sagte mir, dass ich nun genug hatte.
Ich verließ die Wohnung und kurz darauf das Haus und lief in Richtung Auto. Ich fühlte mich seltsam frei. Etwas wurde beendet und etwas Neues begann. Ich wusste, dass nun sehr viel vor mir stand. Aber es machte mich weder unglücklich noch nervös. Es war eher mit angespannter Neugierde zu vergleichen. Mit einem neuen Kapitel in einem Buch. Und ich freute mich, denn ich hatte noch nicht genug. Nicht genug gelesen von Kapitel zwei.
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