Karussellfahrtvon Iris Göbel
Es blinkt, funkelt, leuchtet, verschwommene Farbtropfen in der Dunkelheit.
Das leise Dudeln der Musik dringt bis zu uns und ich sehe seine Augen aufleuchten.
Zart berührt sein Finger meine Hand, als er mich zum Karussell zieht. In der Tiefe seiner Augen kann ich die Kindheit sehen, die Erinnerung an Freude und Ausgelassenheit. An die Freiheit, so zu sein, wie wir sein wollten. Stumm bittet er mich um den einen Euro, um diese verlorenen Erinnerungen wieder aufleben zu lassen.
Seufzend krame ich in meiner Hosentasche. Genau zwei Münzen habe ich noch, sie reiben in meiner Hand gegeneinander und ich reiche ihm eine. Ein verschmitztes Grinsen stiehlt sich auf seine Lippen. Schnell wirft er die schimmernde Münze ein. Sie gesellt sich zu den anderen und das Karussell setzt sich in Bewegung. Er greift nach meinem Handgelenk, flüstert lächelnd: „Komm.“, und zieht mich auf das sich bereits langsam drehende Karussell. Schwankend finde ich mein Gleichgewicht, halte mich an einer der bunten Stangen fest. Seine Hand ruht auf meiner Hüfte und gibt mir zusätzlichen Halt. Er macht einen Schritt zur Seite, lässt sich auf eines der tanzenden Pferdchen sinken, seine Beine sind viel viel viel zu lang und berühren den Boden, selbst als das Pferd den höchsten Punkt in seiner Bewegung erreicht. Ich schwinge mich neben ihn auf das hellbraune Karussellpferd mit dem giftgrünen Sattel, in dessen Mähne rote Strähnen gemalt wurden.
Leise schallt die Musik aus dem billigen Lautsprecher durch die Nacht und er sieht mich an. Sein dunkles Haar fällt ihm ins Gesicht, seine Hand umklammert den Hals des Pferdes. Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln. Er breitet die Arme aus, weist gen Himmel, glücklich, als würde ihm die Welt gehören.
Streckt die Hand nach mir aus und flüchtig berühren seine Fingerspitzen die meinen.
Ich lächle.
Die Welt dreht sich um mich.
Eine Runde, eine zweite Runde, eine dritte Runde.
Alles dreht sich und mit jeder Runde vergesse ich langsam, vergesse den Druck der Welt, der auf uns lastet, den Druck des Lebens, den Druck der Öffentlichkeit, den Druck der Normen. Mit jeder Runde fällt ein Teil dessen von mir, mit jeder weiteren Runde werde ich freier. Mit jeder Runde werde ich wieder ich.
Seine Augen sind auf mir, liebevoll, geborgen.
Sein leises Lachen, das die schreckliche Karussellmusik gleich viel schöner macht.
Über mir leuchtet der dunkle Nachthimmel mit seinen vielen tausenden hunderten unzähligen Sternen, die mir Sicherheit und Glück und Liebe und so viel mehr versprechen und mich in ein fremdes Land voller Freude entführen. In ein Land, in dem ich die Wirklichkeit verliere, zu dem sorgenlosen Kind werde, das ich einst war und zu träumen beginne.
Sekunden, Augenblicke, Wimpernschläge verstreichen und da sind nur er und ich und das Karussell und der Nachthimmel.
Nur wir.
Alleine in unserem erträumten Land, alleine auf der ganzen weiten Welt.
Alleine in unserer Welt, die wir gestalten können, einer Welt, in der uns nichts vorgeschrieben wird, in einer Welt, in der es ausreicht, wer wir sind und wie wir sind. Eine Welt, die nur uns gehört.
Ich sehe seine bunt schimmernden Zähne, angeleuchtet von den farbenfrohen Lichtern des Kinderkarussells. Ich nehme nur seine Freude, sein kleines Glück wahr. Diesen einen so kostbaren Moment des Glückes, der nie wieder enden soll und der mich trotz allem nur noch so selten besucht. Sein dunkles Lachen erfüllt mich und befreit mich von allen Sorgen und ich wünsche mir, dass es so für immer bleiben könnte.
Dass es nicht aufhört, dass es niemals endet, dass ich nie wieder in die richtige Welt zurück muss, in diese Welt mit all ihren Problemen und Schwierigkeiten und Enttäuschungen und Vorschriften. In die reale Welt voller Erwartungen, Erwartungen, die ich nicht erfüllen kann, die ich nicht erfüllen will, Erwartungen, die auf meinen Schultern lasten und mich hinunterdrücken, bis auf den Boden, auf den Grund, wo in den Tiefen nur der Frust auf mich wartet.
Die Musik verstummt, das Pferdchen unter mir kommt zum Stillstand. Seine Finger berühren meine Haut. Ich weiß sofort, was er will, bevor er auch nur irgendetwas sagt. Ich lächle und reiche ihm die letzte Münze.
Für heute will ich noch nicht in die Realität zurückkehren.
Für heute kann ich noch nicht in die Realität zurückkehren.
Für heute möchte ich mich noch einmal fallen lassen und träumen können.
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