Kastanienlocken
Mi 18: 38
Ich biege in die Straße und sehe, wie mein Bus an der Haltestelle steht. Ich laufe los, stolpere hinein und setze mich. Im Gang steht ein junger Mann. Unsere Blicke treffen sich, er senkt den Kopf. Er hat schöne Locken, kastanienfarben. Die oberen Knöpfe seines Hemdes sind offen, darunter eine Kette. Ich beobachte ihn so lange, dass er wieder aufsieht. Ich schaue weg und hole mein Buch raus.
Do 18: 36
Schnellen Fußes gehe ich zur Haltestelle. Ein Aushang an der Station: Wegen einer Baustelle wurden die Fahrtzeiten verrückt.
Der Bus biegt ein, bleibt stehen und saugt die wartende Menge in sich. Als ich mich setze, sehe ich hinten den jungen Mann. Wieder im Hemd, seine Locken wippen bei der Fahrt. Er sitzt mit geschlossenen Augen. Ich schließe sie auch und öffne sie erst wieder bei der Endstation, da ist die Bank hinten schon leer.
Fr 18: 36
Ich schreite schnell zum Bus, leicht aufgeregt. Bevor ich in den Bus steige, fahre ich mir durch die Haare. Drinnen blicke ich herum. Kein Lockenkopf zu sehen.
Mo 18: 41
Es nieselt, heute bin ich später dran. Bei der Station sehe ich jemanden sitzen. Mein Herz schlägt schneller, als ich den jungen Mann erkenne. Ich stelle mich unters Dach, meinen Blick nach unten gerichtet.
„Ab Mittwoch soll der Bus wieder wie gewohnt fahren“, sagt er. Ich drehe den Kopf zu ihm. Verlegen von seinen hellen Augen, stammle ich: „Stimmt, ich hab das auch gesehen.“
„Miriam, du?“, höre ich und drehe mich um. Lydia, eine frühere Kollegin.
„Was für ein Zufall!“
„Lydia, hallo! Du schaust frisch aus! Wie geht’s?“
Ich freu mich, sie zu sehen, spüre aber fast eine Enttäuschung, dass sie genau jetzt dazwischenkommen musste. Wir drängen uns plaudernd in den Bus, den jungen Mann treibt es ans andere Ende.
Di 18: 37
Ungeduldiges Herzklopfen. Da hinten sitzt er. Ich hole mein Buch raus, sehe aber nur Buchstaben, keine Wörter. Nur die Locken aus dem Augenwinkel. Einmal schaue ich auf und merke, wie er mich auch ansieht.
Mi 18: 42
Der Bus kommt wieder wie gewohnt. Ich setze mich und schaue auf. Keine Kastanienlocken zu sehen. Ich streife noch einmal mit dem Blick umher und sehe ihn dann etwas weiter auf der Sitzbank. Kurzgeschoren sitzt er, ich habe ihn nicht gleich erkannt, ein anderer neben ihm.
„Um 22: 34 fährt der Zug“, sagt er zu seinem Nachbar.
„Ja, ich fahre davor zu meiner Mutter. Verabschieden.“
Beide nicken ernst. Der junge Mann greift nach seinem Rucksack und reicht dem Nachbarn die Hand: „Ich gehe jetzt auch bei den Eltern vorbei.“
Er steht auf und hängt sich den Rucksack, auf dem eine Nummer draufgenäht ist, auf die Schulter. Seine Hose ist camouflagefarben, auf der Seite die gleiche Nummer, seine Stiefel hoch zugeschnürt. Bei der Tür sieht er mich. Er greift in seine Brusttasche und holt eine plattgedrückte Blume heraus, beugt sich vor und reicht mir die Blume. Leise spricht er: „Betest du für mich?“
Mit zitternden Händen nehme ich die Blume. Der Bus bleibt stehen. Er steigt aus. Die Türen gehen zu. Der Bus fährt weiter.
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