Katze
Katze
Ich liege auf dem Bett, lasse meinen Kopf über den Bettrand hängen. Kopfüber. Marie Jahoada, Sozialwissenschaftlerin, stand bis zu ihrem 60. Lebensjahr täglich auf dem Kopf. Das Blut läuft mir in den Kopf, ich spüre, wie er rot anläuft. „Du bist kein Hendl“ steht auf dem Schuhkarton in der Ecke, er enthält ein altes Paar Waldviertler Schuhe. Ich überlege, wer sich diesen Slogan wohl ausgedacht, wer den Adler auf der Packung fotografiert hat. Mein Kopf beginnt zu schmerzen.
Mein Kater betrachtet mich skeptisch, ich erkenne die Berechtigung, setze mich auf. Mein Kater heißt „Katze“. Er hatte einmal einen anderen Namen, einen sehr originellen, hatte meine Mutter einst gewählt. Ich bin jedoch ein Fan des Schlichten, der Kater wurde daher zu Katze. Und am selben Tag war mein Bruder verstorben und ich hatte eine mir bis dahin unbekannte Welt betreten. Neuland.
Katze miaut. Ich spiele armer schwarzer Kater mit ihm. Offenbar kennt er die Regeln nicht. Oder an ihm ist in Wahrheit ein Rebell verloren gegangen. Vermutlich würde er am liebsten Boykott üben, gegenüber Whiskas oder Molly.
Neuland kann man sich in etwa so vorstellen, wie die Filmszene in einer klischeehaft gedrehten Dokumentation über Bevölkerung oder Soziales Verhalten. Eine Person steht in der Mitte, sie sieht stur geradeaus und um sie herum schwimmt eine unscharfe Masse an Menschen. Den elektronischen Sound nicht zu vergessen.
Ich bin diese Person.
Alles andere, das ‚um mich herum‘, ist Neuland.
Katze miaut wieder, er legt den Kopf schief und betrachtet mich. Seine Ohren wackeln leicht. Jedoch bin ich nicht so interessant wie die Fliege, die sich kurz danach auf seinen Kopf setzt. Seine Augen drehen sich nach oben.
Ich bin noch nie auf dem Kopf gestanden. Ich hänge bloß kopfüber vom Bett. Ich bin nicht Marie Jahoda, aber möglicherweise sollte ich auch Sozialwissenschaftlerin werden. Um Neuland in Skripten und Exzerpte zu packen. Aus einer grauen Masse ein Individuum machen. Dazu müsste ich es aber endgültig betreten, es kennen lernen. Und ich bin ein Gewohnheitstier. Wir Österreicher mögen nichts, was wir nicht kennen. Das war schon immer so. Ich lasse es mich auf die „Österreichische Gemütlichkeit“ schieben.
Ich lege mich wieder hin. Meine Haare baumeln, streifen leicht den Boden. Katze zupft daran. Oder ich bleibe in Neuland, werde selbst zur grauen Masse, passe mich an, falle nicht auf. Ich bin keine Sozialwissenschaftlerin, ich bin bequem.
Katze lässt sich auf den Rücken fallen, er schnurrt. Seine Weisheit scheint grenzenlos.
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