Kein Blut, kein Schrei
Ich spüre, wie das eiskalte Wasser meine gewohnte Körpertemperatur zerstört und du mich, innerlich. Der See ist heute so klar wie Glas, mein Verstand gestochen scharf. Mein Blick schweift durch die Landschaft und friert ein, als ich dich entdecke. Deine Haare tropfen, du kneifst die Augen zusammen und man sieht die blaue Iris nicht mehr. Du wirkst überanstrengt, überfordert.
Ich merke, dass du dich verändert hast, du siehst älter aus. Wir sind jetzt erwachsen, du, ich, im See. Dein Blick verhakt sich in meinem, wir wissen beide, was passiert ist. In deinem Bett, in dem Versteck, das du nie mochtest, und ich danach auch nicht mehr. Meine Hände bewegten sich hektisch, schnell und unbeholfen. Jetzt gleiten sie, wie du es damals geliebt hättest. Deine Beine strampeln angestrengt, um deinen Köper über Wasser zu halten. Im Gegensatz zu dir bewege ich mich bewusst, gezielt, ruhig.
Früher hatte ich nichts Ruhiges an mir. Jetzt tauche ich in meine kalte Wut und verwandle mich in messerscharfe Präzision. Du schwimmst nun neben mir, langsam erst, und dann immer schneller. Schneller wolltest du, das hast du mir klar gezeigt. Ich habe mich bemüht, schneller zu werden. Habe mich bemüht, den Ekel zu überholen, aber das Tempo war nicht hoch genug, und ich nicht laut genug. Du fragst dich vielleicht, warum ich nicht Nein gesagt habe, als du meine Hand nahmst und sie zurück auf die Stelle presste, und ich frage mich, warum du dich das heute fragst und nicht mich damals.
Deine Glieder durchbrechen das unberührte Wasser, zersprengte Tropfen fliegen um dein Gesicht. Dein Blick: Empathielos, wie immer. Keine Nähe, keine Liebe, kein Verständnis, keine Frage. Nur ein Drang: schneller. Jetzt schwimme ich schneller und das ist befreiend, denn meine Hand ist längst nicht mehr unter deiner Kontrolle.
Meine Arme pflügen routiniert durch den See, scheinbar friedlich breitet er sich vor uns aus. Das Wasser leistet wenig Widerstand und kann doch grenzenlos gefährlich sein. Ich auch, weil ich dich nicht mehr brauch. Ein kräftiger Zug, ich gewinne an Tempo, dann umschlingen meine Finger deinen Hals. Ich spüre deinen Atem, der hektisch aus deiner Kehle strömt. Dein Herz schlägt schnell, wie immer nur für dich. Ein Gedanke: Bitte brich.
Interessant, das mit dem Widerstand. Damals wäre es für mich, jetzt für dich, wichtig gewesen. Du schluckst Wasser, würgst, dein Kopf geht unter. Du warst noch nie ein guter Schwimmer. Ich lasse los. Stoße mich von dir ab, gebe dir Zeit, dass du dich bessern kannst, so lange du möchtest, am Grund des Sees. Kein Blut, kein Schrei, ist ja nichts Dramatisches passiert. Du hättest Nein sagen können, wehr dich doch, wenn du nicht willst.
Die letzte Luftblase steigt auf, wie ein Punkt am Ende unserer Geschichte. Ich sehe zu, wie sie an der Oberfläche platzt.
Dann schwimme ich zurück und steige aus dem See. Nicht länger schwach, sondern stark auf die beste Art in dieser jungen, dummen und so extrem stummen Welt.
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