Kein Entkommen
Jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr, mein Leben, dein Leben, jedes Leben.
Der erste Tag, Schreie, Tränen voller Schmerz, voller Freude. Die Eltern stolz darauf, dass du hier bist, atmest, schreist. Die Verwandtschaft, sie kommt, um dich zu sehen, um deinen Eltern zu versichern, du wärst das Süßeste, Tollste, Beste.
Der Kindergarten, Tränen des Abschiedes, Lachen der anderen Kinder. Verzweiflung, wann kommen die Eltern, haben sie dich alleine mit diesen Fremden gelassen? Doch da, nach einer gefühlten Ewigkeit, sie kommen, holen dich, umarmen, trösten.
Der Tag, von dem dir alle begeistert erzählen, er ist da. In der Früh stehst du da, gewaschen, gebürstet, mit Schultüte in der Hand. Der erste Tag von zwölf Jahren voller Tränen der Freude, des Schmerzes, der Verzweiflung. Immer nur an den nächsten Schritt denken, morgen ist Freitag, in zwei Wochen die ersten Ferien, in einem halben Jahr das Schuljahr vorbei. Aber auch: morgen ist diese Biowiederholung, in zwei Wochen das Referat und die erste Schularbeit, in einem halben Jahr ist endlich dieser Stress, dieser Druck weg.
Und dann die zwölf Jahre vorbei, die letzte Schularbeit geschrieben, die letzte Arbeit abgegeben, die Matura geschafft, doch was jetzt? Bis jetzt ging es immer nur um den nächsten Schritt, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Doch was jetzt? Etwas, für das dich kein Test, keine Schularbeit vorbereitet hat. Das lang ersehnte Ziel, oder? Endlich ist alles vorbei, oder? Das, worauf du immer schon hingearbeitet hast, aber jetzt, was jetzt? Ist es ein Ende oder ein Anfang? Was hat es dir gebracht?
Doch Aufgeben geht jetzt nicht. Du machst weiter, einen Plan von deiner Zukunft hast du nicht. Ein Auslandssemester auf der Suche nach dir und dem Sinn, sinnlos. Die Eltern machen Druck, studiere doch endlich mal was, was Gescheites, was mit Zukunft. Du beginnst mit Jus, dann Journalismus und zum Schluss dann BWL. Bei jedem Mal werden die Blicke verständnisloser, enttäuschter, verzweifelter. Du musst das jetzt durchziehen, kannst nicht schon wieder aufhören.
Geschafft, endlich auch das Studium hinter dir, sechs weitere Jahre nur von Prüfung zu Prüfung leben. Und jetzt, wie geht es weiter? Wenigstens sind die Eltern zufrieden. Du hast es zu was gebracht, hast einen Abschluss, einen Bachelor. Sollst du weiter machen, einen höheren Titel anstreben? Es gibt ja eh kein Ende, kein Entrinnen, immer wenn man denkt, endlich frei zu sein, endlich das Ziel, von dem man schon Jahre geträumt hat, erreicht zu haben, kommt das nächste und das nächste, und der Stress hört nicht auf. Immer gibt es neue Ansprüche, Erwartungen. Egal wie sehr du auch versuchst, dieser Spirale zu entgleiten, am Ende beginnst du doch wieder von vorne.
Um dem zu entkommen, muss man es schon selbst beenden.
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